Im letzten halben Jahr ist mir immer wieder die Geschichte von der Frau am Jakobsbrunnen (Johannes 4) begegnet. Viele Auslegungen, die ich bis dahin gehört und gelesen hatte, scheinen die Situation typisch modern zu erfassen: da sieht sich Jesus einer bindungsscheuen Hedonistin gegenüber, die einen Mann nach dem anderen verschleißt auf der Suche nach einem erfüllten Leben.
Irgendwie fällt, so scheint es, immer auch etwas der Schatten der Ehebrecherin aus Kapitel 8 auf diese Episode. Die anschließende Diskussion ist dann so zu verstehen, dass Jesus die Frau implizit tadelt für ihre verfehlte Suche und ihr den Weg zu einem Leben aus der Fülle Gottes weist.
Doch wie plausibel ist diese heutige Betrachtungsweise für die damalige Situation? Frauen konnten sich in der patriarchalischen Kultur nicht von ihren Männern scheiden lassen und wieder heiraten, nur Männern war das möglich – das dürfte auch unter der Samaritanern kaum anders gewesen sein. Es ist also viel wahrscheinlicher, dass diese Frau schon fünfmal verlassen wurde – eventuell war sie auch ein- oder mehrmals verwitwet. Über ihren eigenen, in unseren heutigen Kategorien vielleicht auch „schuldhaften“ Anteil an den Trennungen kann man jetzt lange und fruchtlos spekulieren, etwas weiter hilft vielleicht die Überlegung, dass (freilich unverschuldete) Unfruchtbarkeit durchaus auch ein denkbarer Scheidungsgrund gewesen sein könnte. Und so sah der augenblickliche Lebensgefährte vielleicht keinen Anlass, sich an eine Frau mit einem derartigen Stigma (unfruchtbar, verschmäht, „gebraucht“) dauerhaft zu binden.
Dass Jesus um diese leidvolle Geschichte weiß und sich trotzdem auf Augenhöhe mit ihr unterhält, dass er keine Anstalten macht, der Frau irgendeine erst noch zu bereuende und bereinigende Schuld zu unterstellen und so ihre Schande zu vergrößern, sondern mit ihr über eine Gottesunmittelbarkeit spricht, die auch den Gegensatz von Juden und Samaritanern, von Zion und Garizim transzendiert – all das wird, so betrachtet, noch viel erstaunlicher. Er stellt sie also keineswegs bloß, sondern er bekleidet sie mit einer Würde, die sie wiederum im Handumdrehen zur „Missionarin“ werden lässt.
Noch ein paar kurze Anmerkungen rund um die beiden erwähnten Damen:
(1) Einen ganz anderen Aspekt bringt z.B. C.K. Barrett in seinem Kommentar am Rande auch noch ins Spiel: Fünf Ehen war für damalige Verhältnisse außerordentlich viel. Nach Josephus hatten die Samaritaner fünf Götzen (in anderen Quellen dagegen sind es sieben). Es könnte also auch sein, dass die Frau symbolisch für ihr Volk hier steht, das nach jüdischem Dafürhalten den wahren Gott verkannt hat. Dieser symbolische Verweis mit der Ehe- auf die Gottesbeziehung wäre ja nicht ganz ungewöhnlich, wenn man an die jüdischen Propheten denkt.
(2) Eli Lizorkin-Eyzenberg hingegen sieht in einer der knappen Erinnerung an die Josephsgeschichte eine Deutung des Leids, das der Frau widerfahren ist, das sich nun durch die Begegnung mit Jesus ebenso wendet wie das Schicksal des Stammvaters der beiden religiösen Gruppen.
(3) Ausgerechnet die so beliebte Geschichte von der Ehebrecherin aus Kapitel 8,1-11 dagegen fehlt übrigens in den ältesten Handschriften des vierten Evangeliums, sie wurde wohl erst später hinzugefügt. Doch auch wenn das geniale Wort nicht von Jesus stammen sollte: Steine werfen ist keine gute Idee, selbst als Sündloser (der man hinterher ohnehin nicht mehr wäre).
Ebenso stellt sich damit die Frage nach dem Stellenwert des in manchen Kreisen mindestens ebenso populären, weil die verletzte moralische Ordnung nachdrücklich bestätigenden Diktums „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr“, mit dem man die Vergebung an die Bedingung künftigen Wohlverhaltens knüpfen kann. Damit niemand das mit der bedingungslosen Gnade missversteht… Valeria Hinck hat hier zu Recht darauf hingewiesen, wie selten das in den Evangelien der Fall ist – sollte Joh 8,11 einfach aus Joh 5,14 übernommen und eingefügt worden sein, dann halbiert sich das auf genau noch ein Vorkommen, während Jesus irritierend oft ganz ohne Bewährungsauflagen vergibt.
Alles in allem sind das doch spannende Perspektiven!