Ich bin immer noch oder immer wieder mal an Iain McGilchrists Thesen zur Funktionsweise menschlichen Denkens und unserer Kultur dran. Er unterscheidet den Zugang, den die rechte und linke Hemisphäre zur Wirklichkeit pflegen. Die linke Hemisphäre hat die Aufgabe, Details zu isolieren und zu fokussieren, und dabei wird der Gegenstand objektiviert, verdinglicht, instrumentalisiert. Hier geht es darum, die Umwelt für die eigenen Zwecke zu nutzen, den Nutzen quantitativ zu bewerten, Zugriff zu bekommen, die wahrgenommenen Gegenstände zu manipulieren. Dazu wird eine mechanistische und reduktionistische Sicht der Dinge angewandt, die in bestimmten Situationen sehr effizient sein kann. Buber würde das den Ich/Es-Modus nennen. Das Subjekt-Objekt-Gefälle führt zur Präferenz von linearen Ursache-Wirkungs-Relationen, von zeitlosen, allgemeinen, statischen und abstrakten Satzwahrheiten. Es erkennt lieber Bekanntes als sich mit Neuem zu befassen. Er lebt in seinen „Definitionen“, „Prinzipien“ und ist verliebt in Mechanismen aller Art. Er schafft ein Klima, in dem die Seele verarmt und häufig auch erkrankt. Fulbert Steffensky sagte jüngst in der taz: „Man wird nur stark und reich am Fremden. Am Anderen.“
Entsprechend denkt die rechte Hemisphäre in Ich/Du-Relationen. Sie erkennt ihre Umwelt als etwas Lebendiges (und damit sich dynamisch entwickelndes, stets in Veränderung Begriffenes), sie kommuniziert in Bildern, Metaphern und Geschichten, sie zieht das Individuelle und Konkrete dem Allgemein-Abstrakten vor (unsere Fähigkeit zur Gesichtserkennung sitzt rechts), statt der Details steht das Ganze mit seiner Gestalt, den unverwechselbaren Mustern und der individuellen Anordnung im Mittelpunkt. Die rechte Hemisphäre hat besseren Zugang zu den körperlichen Empfindungen, sie denkt leiblich, sie zieht die erfahrbare Realität den gedachten, konstruierten und virtualisierten Modellen vor, die von links kommen. Daher entdeckt sie Inkongruenzen und Täuschungen, während die linke Hemisphäre lieber den Buchstaben und Idealen vertraut als den Sinnen. Weil sie, auf sich allein gestellt in einem geschlossenen, selbstreferenziellen Zirkel funktioniert, ist jede Infragestellung von außen schon eine Bedrohung des Ganzen.
So viel zur Rekapitulation. Wenn unser Denken gut funktioniert, beginnt es rechts, bewegt sich dann nach links, um eine bestimmte Frage eingehender zu betrachten, und kehrt dann wieder nach rechts zurück. Es beginnt mit dem Du, der Begegnung und der Erfahrung, mit der Ahnung und dem Gespür, mit der Öffnung für den Anderen, Fremden. Erst dann kommt der Schritt, dass zögernd Glaubensaussagen und -Sätze aufgestellt werden.
Da wo dogmatische Formeln und Regeln aber die Begegnung zu er-sätzen drohen, wo Glaube mit Zustimmung zu (freilich nur vermeintlich) zeitlos gültigen und vom konkreten geschichtlichen Kontext weitestgehend bereinigten Lehraussagen oder quasi-naturwissenschaftlichen „Tatsachen“behauptungen verwechselt wird, wo ein geschlossenes System von Wahrheiten entsteht, die von jeglicher Erfahrung abgekoppelt werden können, wo man also links beginnt und endet, da entsteht ein Kopfglaube, der sich in seinen eigenen frommen Hirngespinsten verliert und meist in eine lebensfeindliche Enge mündet, denn aus den Lehr-Sätzen des Propositionalismus werden leicht Ge-Sätze, die (auch wenn das anders deklariert wird) nicht mehr viel „Geistliches“ und damit Lebensspendendes an sich haben. Man erkennt die „Irrlehre“ immer nur im Fremden und anderen. Auch deshalb, weil einem durch das dualistische Denken, das alles in Schwarz und Weiß einteilt, der Zugang zu den eigenen Ambivalenzen nicht mehr möglich ist. Dafür werden alle Widersprüche ins Gottesbild verschoben: Je souveräner und abgehobener Gott dargestellt wird, desto janusköpfiger erscheint er auch, wenn er etwa mit der gleichen Inbrunst den einen in den Himmel und den anderen in die Hölle schickt.
Echter Herzensglaube (den es durchaus auch auf einem beachtlich hohen theologischen Reflexionsniveau gibt) kann dagegen gut damit umgehen, dass sich das Leben nicht den Formeln und Gesetzen fügt, dass Zweifel und Widersprüche zum Menschsein dazu gehören und nicht verdrängt oder gar beseitigt werden können. Er lebt nicht in einem „bibeltreuen“ Kartenhaus von Propositionen, das einstürzt, wenn man irgendwo ein Element entfernt. Er lebt mit Poesie, Bildern und Geschichten, die keine VorSchriften sind, sondern zu einem neuen Blick und einer anderen Lebenshaltung führen; die Spielräume eröffnen, in denen Veränderung möglich wird. Der Herzensglaube kann, wie Luther einmal pointiert sagte, durchaus auch „Christus gegen die Schrift“ treiben und den Geist über den Buchstaben stellen, sich also mit dem Menschensohn über religiöse Grenzen und Vorschriften hinwegsetzen, um der Liebe und der Barmherzigkeit zu ihrem recht zu verhelfen, und er wird dafür auch Leid und Anfeindung in Kauf nehmen. Vielleicht wird er situativ auch die eine oder andere Fehlentscheidung treffen, aber selbst das Scheitern hat bei Gott seinen Platz und seinen Sinn: auch die dunklen Töne gehören zur Symphonie des Lebens.
Herzensglaube braucht keine Lehrgebäude, die für die Ewigkeit unverrückbar stehen. Er lebt fröhlich mit allerlei Provisorien, die es ihm erlauben, in Bewegung zu sein. Er ist keineswegs beliebig, aber er hat auch keine Berührungsängste gegenüber anderen Konfessionen, Religionen und Positionen; er lässt sich allerdings auch nicht mehr ins Gefängnis begrifflich fixierter Gewissheiten locken und wird sich gegen Vereinnahmungsversuche aus dieser Richtung durchaus auch leidenschaftlich zur Wehr setzen. Daher irritiert jede Form von Mystik die Wächter der durchgezogenen Linien so gewaltig, weil sie Menschen von der Bevormundung durch Regelwerke und Hierarchien befreit.
Wenn Herzensglaube zur Theologie wird, dann funktioniert das, indem man mit Gottvertrauen den Weg in die Weite beschreitet, wie David Bentley Hart in The Beauty of the Infinite so treffend sagt:
Theologie ist keine Kunst, die von der Geschichte auf die Ewigkeit abstrahiert, von Fakten auf Prinzipien, sondern eine, die – unter dem Druck der Geschichte, die zu interpretieren sie aufgerufen ist – entdeckt, wie die Sphäre ihrer Erzählung sich in immer größere Dimensionen des Offenbarten hinein ausdehnt, die Linie zwischen dem Geschöpflichen und dem Göttlichen überschreitet (…), weil diese Linie schon überschritten ist, nicht symbolisch, sondern tatsächlich, in der konkreten Person und Geschichte Jesu.
Herzensglaube ist also nicht Gefühlsduselei, aber er ist eben auch nicht gefühlsvergessen. Er weiß, dass uns die Wahrheit nicht in Worten begegnet, sondern personal, und wie jede Person wahrt die Wahrheit auch ein Geheimnis, das nicht vollständig aussagbar ist, sondern implizit bleiben muss. Und er weiß, dass diese Begegnung uns verändert und auf einen Weg schickt, der für jeden ein bisschen anders aussieht, dass dieser Weg schließlich auch oft mehr mit offenen Fragen als eindeutigen Antworten zu tun hat und daher mehr mit Vertrauen als mit kodifizierbarem Wissen.
Daher ist der Herzensglaube auch nichts Rückwärtsgewandtes, krampfhaft Konservatives, das einmal gewonnene Erkenntnisse für die Ewigkeit festschreiben will. Er kann loslassen und neu finden. Auch deshalb brauchen wir mehr davon: Es ist der Glaube der Pilger und Pioniere.