George Lindbeck hat sich in »Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter« mit der Frage von Religionen und Konfessionen beschäftigt, insbesondere der Annahme, dass die verschiedenen Glaubensformen und -systeme der Ausdruck einer allgemeinen Grunderfahrung sind, die allen Menschen und Kulturen gemeinsam ist – also die Begegnung mit dem „Heiligen“ oder tiefe Gefühle von Liebe, Verbundenheit, Ehrfurcht oder Mitleid. Lindbeck antwortet mit einem kulturell-sprachlichen Ansatz, der in der Sprache, den Deutungsmusters und der Praxis einer Gemeinschaft die Voraussetzung (und nicht etwa die Folge) für konkrete Glaubenserfahrungen sieht. Es gibt also einen gemeinsamen Kern, sondern nur oberflächliche Ähnlichkeiten:
Die ihnen gemeinsamen affektiven Merkmale sind sozusagen Teil ihres Rohmaterials, sind Funktionen jener Gefühle der Nähe zum unmittelbar Nächsten, die von allen geteilt werden, auch von Nazis und Kopfjägern. Es ist genauso ein Fehler, sie als eine Gattung zu klassifizieren, wie zu behaupten, dass alle roten Dinge, ob Äpfel, Indianer oder der rote Platz in Moskau zur gleichen Gattung gehören. (S. 69)
(…) Man kann nicht behaupten, dass zwei Sprachen einander gleichen, indem man zeigt, dass beide sich überlappende Bestände an Lauten gebrauchen oder Referenzobjekte gemeinsam haben (z.B. Mutter, Kind, Wasser, Feuer und hervorragendere Personen und Gegenstände der Welt, die sich Menschen teilen). Was bei der Bestimmung der Ähnlichkeiten unter den Sprachen zählt, sind die grammatischen Muster, die Verweisvorgänge, die semantischen und syntaktischen Strukturen. Etwas entfernt Analoges kann im Fall der Religionen gesagt werden. Die gegebene Tatsache, dass alle Religionen etwas anempfehlen, das »Liebe« zu dem, was am Wichtigsten (»Gott«) zu nehmen ist, genannt werden kann, ist genauso banal wie die uninteressante Tatsache, dass alle Sprachen gesprochen werden (oder wurden). Das Entscheidende sind die unverwechselbaren Erzähl-, Glaubens-, Ritual- und Verhaltensmuster, die »Liebe« und »Gott« ihre spezifische und manchmal sich widersprechende Bedeutung geben. (S. 71)
Religiöse Innovation (wie etwa Luthers Turmerlebnis) entspringt daher nicht einfach nur einer neuen Erfahrung und Gefühlslage im Hinblick auf Gott, die Welt und das Selbst,
… sondern weil ein religiöses Interpretationsschema (wie immer in der religiösen Praxis und im Glauben eingebettet) Anomalien bei der Anwendung auf neue Kontexte entwickelt. (…) Prophetische Gestalten spüren – oft unter dramatischen Umständen -, wie die überlieferten Glaubensmuster, Handlungen und Rituale einer Neuprägung bedürfen (und dass sie neu geprägt werden können). Religiöse Erfahrungen resultieren dann aus diesen neuen konzeptionellen Mustern, anstatt ihre Quelle zu sein. (S. 67)