In den letzten Monaten flatterten mir auf verschiedenen Wegen Texte ins Haus, in denen Luthers Zwei-Reiche-Lehre thematisiert wurde. Der eine stammte von einem Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders, der seine evangelische Kirchenleitung dafür kritisierte, dass sie sich so aktiv in die Flüchtlingsdebatte einmischte und forderte, sie solle sich wieder mehr der Verkündigung des Evangeliums widmen und die Politik den Politikern überlassen.
Der Journalist seinerseits benutzte seinen „weltlichen“ Beruf dazu, auf die innerkirchliche Debatte (nämlich darüber, was das Evangelium ist und was es denn heißt, es in der Gesellschaft hörbar werden zu lassen) einzuwirken. Nur: Entspricht das eigentlich seiner eigenen Auslegung der Zwei-Reiche-Lehre, oder wäre statt eines Rundfunkbeitrags nicht eher die Synode das richtige Forum gewesen?
Noch etwas skurriler war ein anderer Text aus ähnlicher Richtung, dessen Autor ausführte, dass man in seiner Eigenschaft als Christ angehalten sei, mit Flüchtlingen freundlich umzugehen, als Weltmensch und Staatsbürger aber mit dafür Sorge tragen müsse, das „Staatsvolk“ (Carl Schmitt lässt grüßen) vor so viel Zuwanderung zu schützen.
Mich erinnert diese Art, hart an der Bewusstseinsspaltung zu denken und zu argumentieren, an eine Kirche (die hatten wir ja viel zu lange), deren Pfarrer in der Todeszelle die Beichte hören und die Sakramente erteilen, die aber keinen Gedanken daran verschwendet, den Irrsinn der Todesstrafe zu hinterfragen, geschweige denn zu bekämpfen. Heute sind wir dann eben situativ und temporär nett zu den Flüchtlingen, die es über Meere und Zäune hierher geschafft haben, und gleichzeitig schieben wir sie ab in Regionen, in denen sie keine Lebensperspektive haben und die sie nur unter Lebensgefahr verlassen können. Also in den potenziellen Tod, den wir als Christen dann bedauern und als Deutsche für unvermeidlich erklären.
Gerechtigkeit ist – wie die Menschenwürde auch – unteilbar. Theologische Konstrukte wie die oben skizzierten trennen zwischen einer rein spirituellen und jenseitigen Gerechtigkeit (des Glaubens) und einer weltlichen Gerechtigkeit, die zur Wahrung der Ordnung und Sicherung der Macht (bzw. der jeweils geltenden Machtverhältnisse) Zwang, Strafe und Gewalt relativ unbefangen einsetzen darf. Gegen solche Trennungen wandte schon Dietrich Bonhoeffer ein:
Je ausschließlicher wir Christus als den Herrn bekennen, desto mehr enthüllt sich die Weite seines Herrschaftsbereiches. […] Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist. Sie braucht darum nichts geringeres als Christus selbst. Alles wäre verdorben, wollte man Christus für die Kirche aufbewahren, während man der Welt nur irgendein, vielleicht christliches, Gesetz gönnt. […] Seit Gott in Christus Fleisch wurde und in die Welt einging, ist es uns verboten, zwei Räume, zwei Wirklichkeiten zu behaupten: Es gibt nur diese eine Welt.
Diese Ansprache von Landesbischof Bedford-Strohm zeigt, wie man Luthers Lehre von den „zwei Regimenten“ auch verstehen kann:
Entgegen manchen Missinterpretationen ging es Luther nicht um Staatsfrömmigkeit oder um das Propagieren von grenzenloser Gewaltausübung des Staates. Sondern es ging ihm – lange bevor er selbst und seine Zeitgenossen demokratische Ideen hätten vertreten können, um die Herrschaft des Rechts.
[…] Die Liebe – so ist Luther zu interpretieren – muss auch das weltliche Handeln leiten. Die Gewalt muss auch da minimiert werden. Aber immer so, dass die Herrschaft des Rechts nicht in Gefahr gerät. Recht und Liebe sind nicht das Gleiche. Sie müssen unterschieden werden. Aber sie dürfen nie voneinander getrennt werden. Die Kunst der Politik ist es, das Recht so zu setzen, dass die Liebe darin Heimat zu finden vermag.
Gerechtigkeit in dieser unteilbaren Form – nämlich lebensfreundliche Verhältnisse für alle – ist, wie Walter Dietrich sehr plausibel gezeigt hat, nicht nur der rote Faden durch das Erste Testament, sondern auch das Thema, das Jesus in seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes wieder aufnimmt.
Der Advent ist ein guter Anlass, sich wieder daran zu erinnern.