Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen. (Lukas 2,7)
Das Jahr 2015 brachte Licht und Schatten in einer Deutlichkeit wie schon lange nicht mehr: Paris wird von einem verheerenden Terroranschlag getroffen und nur ein paar Wochen später entscheiden sich die Regierungen der Welt, gemeinsam zu handeln, um das Klima für kommende Generationen in einem erträglichen Rahmen zu halten – in derselben Stadt. In Deutschland brennen so viele Flüchtlingsunterkünfte wie nie zuvor und Helfer werden bedroht, aber der Münchener Hauptbahnhof wurde zum Symbol spontaner Hilfsbereitschaft, die sich die Deutschen selbst nicht zugetraut hatten. Östlich von uns höhlen autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan demokratische Strukturen aus – und weit im Westen will mit Donald Trump ein alter, weißer Mann Präsident werden, der unter dem Jubel seiner Anhänger gegen ethnische und religiöse Minderheiten gehässige Dinge sagt.
Wie passt unsere Weihnachtsgeschichte in diese Welt? Es ist eine vielerorts brutalisierte Welt, in der sich aus einer verunsicherten Masse jederzeit ein rastloser Mob bilden kann, und in der die „Sicherheitskräfte“ rücksichtslos zuschlagen oder alle und jeden ausspähen. Eine Welt, in der Millionen Menschen umherirren auf der Suche nach einer sicheren Heimat und einem menschenwürdigen Leben. Eine Welt, in deren medialem Dauerrauschen eine dramatische Nachricht die nächste jagt und jedes neue Ereignis das größte zu sein vorgibt, nur um vom nächsten Aufreger überlagert zu werden. In diesem Sinne bleibt alles beim Alten: Diese Welt scheint dem Ende immer wieder gefährlich nahe. Und in der Enge und dem Lärm scheint kein Platz zu sein für kleine Hoffnungen.
Der Mönch und Schriftsteller Thomas Merton (1915-1968), der als Einsiedler in der Abtei von Gethsemani im US-Bundesstaat Kentucky lebte, hat vor 50 Jahren auf dem Höhepunkt des kalten Krieges Worte gefunden, die unser Lebensgefühl heute erstaunlich gut treffen:
Wir leben in der Zeit, in der es keinen Raum gibt, der Zeit des Endes. Die Zeit, in der jeder besessen ist von Zeitmangel, Platzmangel, davon Zeit zu sparen und Raum zu erobern, in Raum und Zeit hinein die Angst zu projizieren, die das technologische Wüten von Größe, Menge, Geschwindigkeit, Stückzahl, Preis, Macht und Beschleunigung in ihm hervorruft.
Der Ursegen „Seid fruchtbar und mehret euch“ ist plötzlich in das Bluten des Terrors umgeschlagen. Man zählt uns nach Milliarden, wir werden zu Massen verdichtet, herumkommandiert, nummeriert, … besteuert, gedrillt und bewaffnet, bis zum Empfindungslosigkeit beansprucht, von Informationen geblendet, mit Unterhaltung benebelt, bis uns übel wird von der Menschheit und uns selbst, übel vom Leben.
Aber das Ende im biblischen Sinne ist nicht der große Abgrund der Selbstzerstörung: Das Dunkle und die Angst, die es heraufbeschwört, werden nicht verleugnet, aber ihnen wird im Evangelium die Freude und das Helle entgegengesetzt. Das findet seinen Platz freilich nicht im Gedränge der durch die Volkszählung überfüllten Stadt, sondern unter freiem Himmel. Da gehört es hin.
Die Hirten von Bethlehem sind der Rest des „wahren Israel“. In ihnen lebt noch etwas von den Nomaden und Wüstenbewohnern der Frühzeit, das an die großen Gestalten erinnert: Mose war Hirte, bevor Gott ihn nach Ägypten sandte. David war Hirte (in Bethlehem!), bis er Goliath besiegte und König wurde. Und so beginnt auch hier das Neue in der Stille und Leere der Nacht auf dem Feld. Die Herrlichkeit Gottes (Juden sprechen von der Schechina), die den Weg aus Ägypten gewiesen hatte und später im Tempel ihre Heimat fand, erscheint wieder unter freiem Himmel. Gott hat sein Haus verlassen und taucht bei seinen Leuten auf. Er bricht aus – aus der festgelegten religiösen und politischen Welt, in der kein Spielraum für Neues ist.
In unserer Welt fehlt für viele Dinge der Platz: Die Natur steht an der Schwelle zu einem Artensterben, wie es die Welt in Milliarden von Jahren nur selten gesehen hat – eine Folge ihrer rücksichtslosen Ausbeutung durch den Menschen. Immer produktiv sein zu müssen und nicht abschalten zu können führt dazu, dass uns die Ruhe und Stille verloren geht, in der wir nachdenken und zu uns selbst finden können. Und so erliegen wir dem Druck, uns selbst immer weiter zu optimieren, um nicht den Anschluss zu verlieren, um konkurrenzfähig zu bleiben, um nicht in den Augen der anderen irgendwann selbst fehl am Platz zu sein: nutzlos, abgeschrieben, eine ungeliebte Last. Wir versuchen jeder Art von Schmerz auszuweichen, verleugnen unsere Verletzlichkeit, und mit ihr unsere Sterblichkeit. Unsere Unfähigkeit, richtig zu trauern, macht uns paranoid. Und die vielen Dinge, die wir uns leisten, erfüllen uns nicht tief oder dauerhaft, sondern sie verdecken nur die Leere, die daher rührt, dass für etwas Wesentliches kein Platz ist. Noch einmal Thomas Merton:
In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.
Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.
Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.
Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.
Denen, die fehl am Platz scheinen, verkünden die Engel große Freude. Nicht das Ende vom Ende der alten Welt ist im Blick, sondern die Saat einer neuen Welt. Diese neue Welt funktioniert nicht mehr nach den Bedingungen der alten: Mehr vom Selben, Auge um Auge, Survival of the Fittest, die Mechanismen des Marktes. Sie gehört all jenen, die ihre kleinen Hoffnungen auf etwas Glück und ein Leben in Würde nicht begraben oder verkauft haben. Insofern wir zu diesem Menschen gehören, die fehl am Platz sind, gilt sie uns. Und wenn wir sie suchen, dann finden wir sie bei denen, die aussortiert und abgeschoben werden sollen.
Im April 2015 war ich in Bethlehem. Die Enge und der Druck, von denen Merton schreibt, sind dort mit Händen zu greifen, wenn man die Checkpoints der israelischen Soldaten passiert und vor einer Mauer und Wachtürmen steht, die doppelt so hoch sind wie die Berliner Mauer. Sie trennt Familien von ihren Verwandten und Bauern von ihren Feldern. Diese Woche habe ich den Brief eines neunjährigen Mädchens aus Bethlehem gelesen. Sie heißt Marianne, ist palästinensische Christin und lebt in Beit Sahour. Jeden Morgen betet die ganze Familie das Vaterunser oder singt „Christus ist auferstanden“, dann macht Marianne sich auf den Weg in die Schule, der sie am Feld der Hirten vorbei führt. Sie muss gar nicht bis zur Geburtskirche gehen, um an das „Fürchtet Euch nicht“ erinnert zu werden, das der Engel den Hirten zurief.
Immer wieder eskaliert die Gewalt im besetzen Gebieten Westjordanland. Marianne hat daher viele Gründe, sich vor den Panzern und Soldaten zu fürchten. Es ist gefährlich, draußen zu spielen. Die Lage ist sicher nicht so schlimm wie in Syrien, doch viele Verwandte und Bekannte sind schon frustriert ausgewandert. Marianne möchte bleiben, und ihr Glaube gibt ihr die Hoffnung, dass so etwas wie ein normales Leben möglich sein kann. Am Ende des Briefes lädt sie uns ein, sie zu besuchen, und zu sehen, dass auch die Palästinenser in Bethlehem Menschen sind wie Du und ich. „Wir sind die Hirten“, sagt sie.
An Weihnachten lädt uns Gott zu zwei Dingen ein: Als behütete Gotteskinder damit aufzuhören, uns ständig von der Sorge um unseren Platz umtreiben zu lassen. Und uns, als Hüter unseres Bruders, furchtlos und verletzlich wie er auf die Seite all derer zu stellen, für die das Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz und keine Verwendung hat. Oder, wie Thomas Merton schrieb: „Sei menschlich in dieser so unmenschlichen Zeit. Wahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.“ Darin erwartet uns die große Freude: Wir finden wieder Geschmack – an der Menschheit und uns selbst, am Leben.