Der „Rudelschalter“

Jaron Lanier hat im November 2014 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. In seiner Rede übt er Kritik an „gegen die utopische Aufladung, gegen die Erlösungsversprechen, gegen die Heilslehre einer neuen, technologisch inthronisierten Hypermoderne“ (Zeit Online). Das Internet und Big Data werden die elementaren Probleme nicht lösen, sondern sie scheinen einige davon eher verstärken. Dazu gehört unter anderem die Tendenz, sich mit einer Gruppe zu identifizieren und (so hätte Miroslav Volf das jetzt gesagt) dabei alles andere auszuschließen, indem man es als feindlich einstuft. Lanier wählt ein drastisches Bild, nämlich eine aktualisierte Form des „homo homini lupus“ (Hobbes/Plautus):

Die dunkelste meiner digitalen Ängste betrifft das, was ich den ‚Rudelschalter‘ nenne. Es ist die These von einem hartnäckigen Zug des menschlichen Charakters, der sich dem Frieden widersetzt. Nach dieser Theorie sind die Menschen Wölfe; wir gehören zu einer Spezies, die als Individuum oder als Rudel funktionieren kann. In uns ist ein Schalter. Und wir neigen dazu, uns immer wieder plötzlich in Rudel zu verwandeln, ohne dass wir es selbst bemerken.

Rudelbildung wird, um es mit Bauman zu sagen, aufgrund der Verflüssigung und Schwächung traditioneller Identitäten derzeit immer attraktiver. Den Hintergrund dieser Sorge beschreibt Lanier so:

Die traditionelle Definition von „Frieden“ bezieht sich auf den Frieden zwischen Rudeln oder Klans, und so ist „Stammesgefühl“ vielleicht die gefährlichste unserer Sünden. Es zersetzt uns tief im Wesen. Trotzdem wird Schwarmidentität fast überall als Tugend angesehen. Das Buch der Sprüche im Alten Testament enthält eine Liste von Sünden, darunter Lügen, Mord, Hochmut, aber auch „Hader zwischen Brüdern säen“. Ähnliche Gebote gibt es in allen Kulturen, allen politischen Systemen, allen Religionen, die ich studiert habe. Ich will damit nicht sagen, dass alle Kulturen und Glaubensbekenntnisse gleich sind, sondern dass es eine Gefahr gibt, die uns gemein ist, weil sie in unserer Natur liegt, und die wir abzuwehren lernen müssen. Die Loyalität gegenüber dem Rudel wird immer wieder mit Tugend verwechselt, obwohl – besonders wenn! – Menschen sich selbst als Rebellen sehen. Es tritt immer Rudel gegen Rudel an.“

 

Die Verbindung von Rudelbildung und rebellischem Pathos ist besonders scharf beobachtet. Pegida, im November noch kein großes Thema, wäre dafür sicher kein schlechtes Beispiel. Das nämlich ist die Logik, die „wir sind das Volk“ mit Affekten der Fremdenfeindlichkeit und der Wut auf das Establishment verknüpft. Walter Wink hat den Mob einmal als Beispiel dafür verwendet, dass Gruppen von Menschen (vor allem negative) Dinge tun, die der einzelne vermutlich unterlassen würde. In beide Fällen sorgt die Identifikation mit einer durch Feindbilder bestimmten Gruppe für eine Radikalisierung der Personen und Situationen. Das Kollektiv ist eine eigene Form von Macht.

Lanier sieht als Gegenmittel eine komplexere Form von Identität, die nicht mehr über die Zuordnung zu einem einzigen „Clan“ funktionieren darf:

Das Beste wäre vielleicht, wenn jedes Individuum vielen verschiedenen Gruppen angehörte, so dass kaum klare Klans erkennbar wären, die gegeneinander antreten könnten. Während der digitalen Anfänge vor ein paar Jahrzehnten war genau das meine Hoffnung für digitale Netzwerke. Wenn sich in einer besser verbundenen Welt jeder Mensch zu einer verwirrenden Vielfalt von „Teams“ zugehörig fühlen würde, wären die Loyalitäten vielleicht zu komplex, als dass traditionelle Rivalitäten eskalieren könnten. Das ist auch der Grund, warum mir der Trend sozialer Netzwerke Sorgen bereitet, die Leute in Gruppen zusammenzutreiben […] Die Welt kommt mir jedes Mal vor wie ein besserer Ort, wenn mir jemand begegnet, der sich mehreren Sportmannschaften verbunden fühlt und sich bei einem Spiel nicht entscheiden kann, zu wem er hält. Dieser Mensch ist begeistert, aber er ist auch verwirrt; plötzlich ist er ein Individuum und kein Teil eines Rudels mehr. Der Schalter wird zurückgesetzt.

Volf plädierte schon vor ein paar Jahren in Von der Ausgrenzung zur Umarmung ganz analog für eine hybride Identität, die sich mehr über die Beziehung als den Ausschluss. Wer das Buch noch nicht Gelsen hat, sollte spätestens jetzt einen tiefen Blick hinein werfen. Er schreibt im Blick auf ein christliches Selbstverständnis:

Die Distanz zu unserer eigenen Kultur, die aus dem Geist der neuen Schöpfung geboren ist, sollte uns aus dem Griff unserer Kultur lösen und uns fähig machen, mit ihrer Fluidität zu leben und ihre Hybridität zu bejahen. Andere Kulturen sind keine Bedrohung für die Reinheit unserer unverdorbenen kulturellen Identität, sondern eine mögliche Quelle für ihre Bereicherung. Sich überschneidende und überlagernde Kulturen können, wenn in ihnen Menschen leben, die mutig genug sind, nicht einfach nur dazuzugehören, einander zu einer dynamischen Vitalität verhelfen.

Mutig genug… da liegt die Herausforderung.

Bei aller nötigen Opposition gegen Pegida und ähnliche Bewegungen hilft es daher auch nicht, bloß „zurückzurudeln“. In der Tatortfolge „Hydra“ über den Mord an einem Neonazi sagte der Dortmunder Kommissar Faber neulich „Deutscher, Grieche, Türke, Holländer – Nazi kann jeder … Vergessen sie den Nazi. Fischer war ein Mensch.“ Wink spricht davon, dass es darum geht, zu erkennen, wie ähnlich mein Feind mir sein kann – weil wir beide Menschen sind.

Rudel kann jeder. Es tut unterm Strich niemandem gut.

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