Das Wort, die Widerworte und eine gefährliche Nachbarschaft (Weihnachten 2018)

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Joh 1,14

Worte werden Fleisch

Das ist eine alltägliche Sache, im Großen wie im Kleinen. 

Parolen, Polemik und Propaganda setzen Dinge – Ideen, Forderungen, Stimmungen – in die Welt. Sie bewegen Menschen, gehen ihnen schließlich in Fleisch und Blut über und führen ein Eigenleben. Dann folgen menschliche Köpfe, Hände und Füße einem Aufruf zum Streik, sie begehren auf, stimmen ab, randalieren. Und weil Propaganda immer ein problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kommt dabei derzeit oft nichts Gutes heraus.

Aber auch Lieder und Liebeserklärungen „werden Fleisch“. Menschen fassen Vertrauen und versprechen sich einander. Sie bekommen Kinder, für die sie sorgen und die irgendwann ihre eigenen Liebeserklärungen wagen. Keine glückliche Beziehung ohne Gesten und Worte der Zuneigung. Keine soziale Bewegung ohne diesen Treibstoff.

Entscheidend ist, welches Wort genau Fleisch wird. Und wo. Und wozu.

Sagen, was wird

Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendein Wort unter anderen. Es ist das Wort des schöpferischen Anfangs. Nicht so sehr eines zeitlichen Anfangs, der mit jedem Jahr in größere Ferne rückt, sondern der verlässliche, tragende Grund der Wirklichkeit.

Es ist keine „Information“, sondern ein Anruf – an die Sterne, das Meer und die Menschen: „Tretet ins Leben“ – „zeigt euch“. Und seither geschieht es, andauernd: Leben entsteht und erneuert sich. Beziehungen entstehen und entfalten sich. Geschöpfe antworten auf die An-Sprache Gottes, der sie beim Namen ruft, mit ihrer eigenen Stimme.

Das Wort, mit dem Gott sagt, was wird, ist also der Grund-Satz, der uns in die Wirklichkeit stellt und dort erdet. Vor aller Zwiespältigkeit, Verzerrung und Lüge, die es nun freilich auch gibt. Die Lüge aber ist eben deshalb ein Skandal, weil es Wahrheit gibt und weil Vertrauenkönnen für uns so wichtig ist.

Die Lüge sagt das, was nicht ist, so, als wäre es der Fall.

Sagen, was (nicht?) ist

„Sagen, was ist.“ Das Motto des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein ist das Mantra des deutschen Journalismus. In der vergangenen Woche hat dieser ehrgeizige Anspruch auf Wahrhaftigkeit durch den Skandal über erfundene – erlogene! – Reportagen von Claus Relotius schwer gelitten. Eine Flut von Erklärungen, Kommentaren und Diskussionen war die Folge. 

Die Krisenstimmung hat mit dem Anspruch zu tun. Der Autor Erik Flügge skizziert das Dilemma hinter dem Rauschen im Blätterwald:

„In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird. […] Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.“


Skrupellose Widerworte und die vergeblichen Erwiderungen darauf. Gnade und Wahrheit verschüttet unter Lügen. Licht mitten in der Finsternis.

Kein Wunder, dass DAS Wort in eine Welt kommt, die nichts begreift, es nicht wahr- und aufnimmt. Es trifft ja nicht auf Stille des Anfangs, sondern auf ein Gewirr von Stimmen und Worten. Zu viele Lügen. Zuviel Misstrauen. Zuviel Resignation. Damals wie heute.

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Zeltplätze und Nachbarschaften

Übersetzt man Joh 1,14 wörtlich, dann steht da: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns.“ Eine Anspielung auf den nomadischen, vagabundierenden Gott Israels, der mit seinem Volk umherzieht und sich in keinen Tempel einmauern lässt. Und auf den umherziehenden, mobilen Messias, der das Wandern in der Fremde wieder aufnimmt.

Ich wohne in einem Reihenhaus. Ein Bekannter hat einmal gesagt: Im Reihenhaus wohnst du wie auf dem Campingplatz. Und er hat Recht: Man bekommt alles mit: Bellende Hunde, Klavierstunden, Partys, den Qualm vom Grill, maulende Kinder und schimpfende Eltern. Das kann nerven, aber auch tröstlich sein. Eine Nachbarin sagte neulich zur anderen „Es hat mir so gut getan, zu hören, wie du dein Kind angeschrien hast“. Deswegen ist es ganz zutreffend, dass Eugene Peterson hier statt „zeltete unter uns“ übersetzt: „Das Wort wurde Fleisch und Blut und zog in die Nachbarschaft.“

Nachbarschaft. Ich halte diese Predigt ja zweimal, und zwar in benachbarten Gemeinden: Zabo und Mögeldorf.  In Zabo hat es in der jüngeren Vergangenheit mächtig geknirscht. Neulich sagte ein Gemeindeglied traurig und ein bisschen beschämt: „Jetzt reden sogar die Mögeldorfer über uns“. Ich habe dann nur gesagt: „Mag sein. Aber ich könnte  mir vorstellen, die Mögeldorfer sind vor allem froh, dass gerade nicht über sie geredet wird.“ So ist das eben unter Nachbarn. Mal hat die eine die Krise, mal der andere.

Man wird mit seinen Nachbarn häufig in einen Topf geworfen, nach dem Motto: „Mitgefangen, mitgehangen“: „Die Zaboraner zanken.“ „Die Mögeldorfer wollen immer das letzte Wort haben.“ Das kann ärgerlich sein oder lustig, und ab und zu auch gefährlich.

Gefährliche Nachbarschaften

Ich habe in diesem Jahr den Begriff der „gefährlichen Nachbarschaft“ gelernt. Da geht es um gesellschaftpolitische Fragen. Zum Beispiel so: Pegida kapert traditionelle Weihnachtslieder und gibt ihnen damit eine völkische, fremdenfeindliche Bedeutung. Es wird plötzlich schwerer, sie unbefangen zu singen, weil wir ja das genaue Gegenteil damit verbinden: Den menschenfreundlichen Gott, der alles nationale Pathos ins Leere laufen lässt. Aus ähnlich gegensätzlichen Motiven hängen Menschen seit diesem Jahr Kreuze auf (oder lassen es bleiben).

Aber es betrifft nicht nur religiöse Fragen: Die Feministin Antje Schrupp skizzierte vor einer Weile die äußerliche Nähe zwischen den Anstrengungen zur gesellschaftlichen Anerkennung unbezahlter (in der Regel weiblicher) Haus- und Pflegearbeit auf der einen Seite und einer Verklärung des hausfraulichen Apfelkuchenbackens à la Eva Herman auf der anderen. Die einen wollen Gleichbehandlung unterschiedlicher Tätigkeiten, die anderen patriarchale Geschlechterrollen festschreiben. Schrupp stellt fest, dass diese Nachbarschaft zu schwierigen Reflexen führen kann:

»Sagen sie „Heimat“, erklären wir das Wort für prinzipiell unbrauchbar. Kritisieren sie die „Systempresse“ müssen wir die Medien auf jeden Fall in Schutz nehmen. Jede Position, die Rechte vertreten, wird prinzipiell problematisch, weil man damit automatisch in den Verdacht gerät, ebenfalls rechts zu sein: Was, du backst gerne Apfelkuchen? Aber Eva Herman!!!«


Mir fällt ein Bekannter ein, der immer ausgesprochen progressiv (und im damaligen Sinne „links“) war. Dann hat er sich wie Thilo Sarrazin zum zornigen Islam- und Migrationskritiker mit repressiven Tendenzen gewandelt. Wir haben äußerlich immer noch einiges gemeinsam, trotzdem sind wir uns fremd geworden.

Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Aber zurück zur Bibel:

In genau solche Nachbarschaften mit ihren Animositäten, Allergien und Vorurteilen begibt sich das Wort: Noch im selben Kapitel lesen wir, wie Nathanael fragt: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Damit beginnt eine ganze Reihe von Urteilen, die über Jesus gefällt werden:

  • „Was, du willst den Römern nicht an die Gurgel? Dann bist du ein Verräter an der Sache Gottes! Oder einfach nur ein Feigling?“
  • „Was, du gibst dich mit Sündern ab und verurteilst sie nicht? Du setzt dich über die Reinheitsvorschriften unserer Religion hinweg? Du störst den Opfergottesdienst im Tempel? Dann bist du ein falscher Prophet.“
  • „Was, du verkündest das Reich Gottes in dieser Welt? Dann bist Du ein Aufrührer und Terrorist. Besser, wir bringen dich gleich um.“

Das leibhaftige Wort umgibt sich mit Menschen, die ihrerseits eine gefährliche Nachbarschaft bilden: Simon, der Zelot (ein Terrorsympathisant), Levi, der Zöllner (ein Profiteur der Besatzung), Petrus, der Hitzkopf – und natürlich Judas…

Die Tür in der Nähe

In dieser Nähe liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Hoffnung. „Rechts“ und „links“ liegen nicht Lichtjahre auseinander. Das eine ist nicht in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil des anderen. Irgendwann hat sich mein autoritaristischer Nachbar oder Bekannter entschlossen, durch diese problematische Tür ganz in der Nähe zu gehen. Die Nähe braucht mich aber nicht zu irritieren oder zu alarmieren, auch nicht die Gemeinsamkeiten wie der Apfelkuchen.

Weihnachten heißt: Das Wort hat sich auch in meine gefährliche Nachbarschaft begeben. In dem „unter uns“ des Evangelisten Johannes sind ja auch wir Heutigen eingeschlossen. Meine Fehler und Dummheiten, meine Versäumnisse und Verstrickungen fallen auf ihn zurück. Gott nimmt das ganz bewusst in Kauf. Und für mich ist eine Tür offen in ein neues, anderes Leben. Ganz in der Nähe. Überall da, wo ich falsch abgebogen bin und Lügen auf den Leim gehe oder mich selbst betrüge. Denn das mit der Tür funktioniert auch in umgekehrter Richtung – von der Ausgrenzung zur Umarmung, von der Feindschaft zum Frieden.

Kann ich das auch: Zankenden und zeternden, zugänglichen und zauberhaften Menschen ein guter Nachbar sein? Vielleicht handle ich mir das eine oder andere Missverständnis ein. Aber das hier ist nun eben die Nachbarschaft, in die Gott mich stellt. Wie schön, dass Sie alle dazugehören. Und wenn wir dieser Spur folgen – wer weiß, was wir nächstes Weihnachten einander alles über Gnade und Wahrheit erzählen können?

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Schotty und das leere Grab

Der größte Spaß an Ostern ist für viele Kinder das Eiersuchen. Jemand hat sie versteckt und man muss genau hinsehen, um sie zu finden. Ostern ist das Fest für Entdecker. Etwas ist der oberflächlichen Betrachtung verborgen, und wer es findet (egal, ob er danach gesucht hat oder zufällig darüber stolpert), der freut sich darüber. An Ostern geht es um eine große Überraschung. Aber wie kann man von etwas freudig überrascht werden, das sich jedes Jahr wiederholt? Wann wird aus Begeisterung Routine?

Heiko Schotte alias „Schotty“, der Tatortreiniger, ist längst eine Kultfigur im deutschen Fernsehen. Für die Firma Lausen Gebäudereinigung entfernt er die Spuren von Verbrechen, nachdem die Polizei ihre Arbeit getan hat. Wenn er den letzten Dreck wegmacht, begegnen ihm die merkwürdigsten Menschen und Situationen. Wie sähe die Szenerie, die das Osterevangelium (Matthäus 28,1-8) beschreibt, wohl durch seine Augen betrachtet aus? Es könnte sich ungefähr so abspielen:

Schotty kommt mit seinen Kisten und Utensilien bepackt am Grab an. Dort steht ein Wachmann von Zion Security. Schotty stellt sich vor und fragt, wo er saubermachen soll. Der Wachmann deutet auf den Eingang zu einem Felsengrab. Eine Leiche sei verschwunden. Vermutlich geklaut. Der Wachmann sagt, er würde dann gehen, er stehe jetzt schon ein paar Tage hier rum und müsse endlich mal seine Überstunden abfeiern.

Schotty wundert sich, warum dieses Grab bewacht wurde. Normal klauen Grabräuber die Beigaben und lassen die Leiche liegen. Haben die Behörden jetzt etwa schon Angst vor den Toten? Oder waren sie nicht sicher, ob der Tote wirklich tot war? Doch, schon, sagt der Wachmann. Die Hinrichtung haben römische Profis gemacht, sowas hat bisher noch niemand überlebt. Die stellen sicher, dass solche Troublemaker keine Chance haben, nochmal zurückzuschlagen.

Hinrichtung –, fragt Schotty, gehe es um einen Verbrecher? Ja, sowas in der Art, sagt der Wachmann. Ein selbsternannter Prophet aus Galiläa, der auf der Straße und im Tempel die Behörden provoziert hatte. Früher oder später arte sowas immer in Gewalt aus, da habe man eben mal präventiv durchgegriffen, weil auch noch so viele Festbesucher in der Stadt seien, da kippt die Stimmung schnell. Man wollte keine Versammlungen am Grab, daher sei das Grundstück abgeriegelt worden.

Am Eingang zum Grab entdeckt Schotty einen kleinen Blutfleck. Der Wachmann sagt, das sei Blut von einem Kollegen, der gestürzt sei, weil ihn ein Licht blendete. Nur eine Platzwunde. Schotty fragt, ob es denn keinen Kampf gegeben habe, wenn das ein Überfall war. Der Wachmann meint, nun sichtbar verlegen, dass außer dem einem grellen Blitz und einem heftigen Donnergrollen nichts zu sehen war. Niemand ging zum Grab hinein, Rauskommen sei ohnehin nicht möglich. Schotty könne das gern mal probieren – er solle einfach mal reingehen und der Wachmann würde dann das Grab schließen…?

Schotty lehnt dankend ab. Er überlegt kurz, dann zwinkert er dem Wachmann zu: Mir kannst du es ja ruhig sagen. Ihr habt zu tief ins Glas geschaut und der Kollege hat sich im Suff verletzt, oder? Der Wachmann zuckt resigniert mit den Schultern. Er fürchte, auch seine Vorgesetzten könnten glauben, das sei alles eine Ausrede und die Wachmannschaft sei breit gewesen oder im Tiefschlaf versunken. Dabei schreckt bei einem solchen Gewitter auch der schlimmste Säufer auf. Womöglich gebe es jetzt eine Gehaltskürzung, dabei habe keiner der Kollegen sich etwas zu schulden kommen lassen. Und der Sold sei eh schon so bescheiden, dass man im teuren Jerusalem damit kaum überleben könne.

Schotty kratzt sich nachdenklich am Kopf: Es sei ja schon vorgekommen, dass sich Feinde eines Toten bemächtigen, um die Leiche schänden und die Gegner zu schockieren. Aber die Anhänger von irgendwelchen Führern seien doch eher froh, wenn sie ein Grab haben, zu dem sie hinpilgern können, um zu trauern und sich zu erinnern. So wie das Grab des Königs David auf dem Zion oder das von Abraham und Isaak in Hebron vielleicht.

Ja, sagt der Wachmann, sowas hätten die dunkel gekleideten Frauen auch im Sinn gehabt, die gleich nach Blitz und Donner kamen und ins Grab wollten. Die jedenfalls wollten den Toten einbalsamieren, nicht mitnehmen. Eine habe vor Schreck über das Verschwinden des Toten ihr Salbengefäß fallen lassen, so perplex sei sie gewesen, als sie das Grab leer fand. Er zeigt auf einen Ölfleck auf dem Boden im Grab. Die drei Ladies seien ganz verstört gewesen, und nach einer Weile des kopflosen Herumlaufens, lauten Diskutierens und erschöpften Schweigens hätten sie den Garten eilig verlassen. Anscheinend wollten sie plötzlich zurück nach Galiläa, da kamen sie dem Dialekt nach auch her. Sie wirkten merkwürdig aufgeregt, nicht mehr so deprimiert wie am Anfang.

Schotty überlegt, wie er das Öl am besten wegbekommt. Wenigstens riecht es gut. Aber man sieht im Halbdunkel nicht genau, ob man auch alle Spritzer erwischt hat. Nicht, dass es hinterher Reklamationen gibt, wenn eh schon politische Verwicklungen drohen.

Immerhin habe sich die Sache in der Stadt noch nicht herumgesprochen, tröstet sich der Wachmann, und die drei Frauen hätten die Wachleute bisher nicht angeschwärzt. Glück für ihn, dass keine Männer dabei waren, den Frauen glaubt sowieso niemand bei Gericht. Weiß ja jeder, was die so alles reden, wenn der Tag lang ist…

Sagt’s und packt seine Sachen.

Schotty ist allein im Grab. Er kehrt den Staub vom Fußboden zusammen und als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, sucht er wieder nach dem Fleck. Dabei fallen ihm ein paar Tücher auf, die in einer Nische liegen. Trockene Blutreste kleben daran, man kann die Wundränder noch ahnen, die sich bedeckt haben müssen.

Die Sonne scheint zum Eingang herein, es wird allmählich wärmer, und von draußen hört man Vogelgezwitscher. Ein warmer Windhauch streift sein Gesicht. Er bringt den Duft von frischem Gras mit. Als Schotty sich bückt, sieht er, wie sich ein Schatten rasch durch den Lichtfleck am Eingang bewegt. Nicht, dass mich hier jetzt irgendein Witzbold einsperrt, denkt er sich. Oder jemand, der wieder eine Leiche im Grab haben möchte, um seinen Allerwertesten zu retten? Er geht hinaus, aber da ist niemand zu sehen.

Erst mal Frühstückspause machen. Vielleicht sind draußen an den Bäumen schon ein paar Feigen reif? Er hat Pech, sie sind noch grün, aber ein Schmetterling sitzt auf einem Zweig. Offenbar ist er gerade aus seinem Kokon geschlüpft, und jetzt faltet er seine Flügel auf. Schotty beschließt, da zu bleiben, bis er fliegen kann, damit ihn kein Vogel entdeckt und frisst.

Und weil sich das ein bisschen hinzieht, kommt Schotty nicht schell genug auf die Beine, als eine Frau und zwei Männer tuschelnd näher kommen und im Grab verschwinden. Doch dann schwingt sich der Falter noch etwas taumelnd die die Luft und verschwindet hinter den Sträuchern und Schotty geht zum Grab, um sicherzustellen, dass nicht neue Unordnung angerichtet wird.

Beim Hereinkommen hört er eine Frauenstimme sagen: Doch, genau hier hatten sie in hingelegt. Und als gestern die Marias kamen, war er weg und der Eingang war offen. Die Securityleute wussten anscheinend von nichts über den Verbleib des Leichnams.

Bestimmt haben sie das bloß behauptet, unterbricht sie ein Mann, die wollten euch doch nur reinlegen, und weder Pilatus noch die Hohenpriester wollen ein Jesusgrab in der Stadt. Propheten und Messiasse aus dem Volk seien bei der Oberschicht unerwünscht.

Aha, denkt Schotty, jetzt läuft die Verschwörungsdiskussion also genau umgekehrt. Er räuspert sich und das Gespräch verstummt schlagartig. Die drei packen die Tücher zusammen und wollen das Grab verlassen.

Ihr könnt die Sachen da lassen, sagt Schotty , – ich bring sie weg. Die Männer machen eine ablehnende Handbewegung; die Frau fragt: Hast du ihn auch gekannt? Schotty erklärt, er sei eigentlich nicht von hier und verstehe gar nicht, warum alle einen Toten suchen und was die ganze Aufregung um das leere Grab soll. Im Übrigen müsse er hier saubermachen und da könne er es nicht brauchen, dass Leute an ihren Schuhen Dreck herein tragen. Dann sieht er, dass sie die Schuhe alle ausgezogen haben. Er fragt, ob das so eine religiöse Sache sei bei den Juden?

Aber da saß noch dieser Typ auf dem Stein, sagt die Frau, die so in Gedanken war, dass sie seine Frage überhört hat. Sie hält immer noch die blutigen Tücher fest an sich gedrückt. Der habe den Marias gesagt, dass Jesus auferstanden…

Das glaubt dir doch sowieso niemand, sagt der andere Mann. Komm, wir gehen.

Schotty dreht sich um und sieht ihnen nach. Er hört, wie die Frau im Weggehen zu ihren Begleitern sagt: Wir hätten doch mitgehen sollen nach Galiläa. Wenn die anderen nun Jesus dort sehen und wir nicht? Wollt Ihr das wirklich verpassen? Wir könnten sie vielleicht noch einholen. Was gibt es hier für uns denn noch zu tun?

Dann ist es wieder ruhig im Grab. Während der wenigen Minuten, die er noch braucht, kommt es Schotty so vor, als zwitscherten die Vögel draußen noch ausgelassener. Der Duft, der aus dem Garten in die kühle Kellerluft hereinzieht wirkt auch intensiver. Auferstanden, hatte sie gesagt. Wie soll man sich das vorstellen? Man wünscht sich ja wirklich nicht jeden zurück. Aber auf Jesus wäre er jetzt echt mal neugierig.

Schotty betrachtet das geputzte Grab. War da eben wirklich kein Schatten am Eingang vorbeigezogen? Das Grab drückt aus: Wir begraben die Toten, und mit ihnen die gemeinsame Geschichte, die gemeinsamen Träume und Hoffnungen, die der Tod gekappt hat und die wie totes Holz vertrocknen und vermodern. Es bliebt nur die Erinnerung, und selbst die lässt sich nicht festhalten. Der Tod besiegt das Leben. Die Bausteine der Materie werden recycelt, aber die unteilbare Person löst sich auf.

Als jemand, der an Tatorten herumkommt, weiß Schotty aber auch: Manchmal sterben Hoffnungen und Beziehungen schon zu Lebzeiten aller Beteiligten. Beziehungen zwischen Menschen, die einander nur als Feinde erkennen können oder wollen. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit oder Versöhnung. Träume von einem glücklichen und friedlichen Zusammenleben. Der Tod – ob natürlich oder gewaltsam – schreibt diesen Verlust nur noch endgültig fest.

Auferstehung… und wenn tatsächlich Gott dahinter stecken sollte…

… wenn Jesus auferstanden wäre, dann hieße das, die Mächtigen können sich nicht alles herausnehmen, jede Kritik unterdrücken und kommen damit durch. Weder die Angst noch der Tod bringen die Erinnerung an die vielen Menschen zum Verstummen, die wie der letzte Dreck behandelt wurden.

… das würde auch heißen, dass kaputte Beziehungen wiederhergestellt werden können, verletzte Menschenwürde geheilt, dass Hoffnung wieder lebendig wird und man sich waghalsige Träume wieder leisten kann, dass Freude über das Gute und Schöne die tiefere Wahrheit ist gegenüber der Trauer und der Abscheu gegenüber dem Bösen, Brutalen und Hässlichen. Diktatoren und Terroristen sind am Ende nur eine Fußnote der Geschichte, ihre Helden hingegen sind all jene, die es in ihrer verletzlichen Schönheit dem Schmetterling gleichtun.

Schotty packt seine Sachen in die Box und trägt sie zurück durch den Garten. Anfangs fällt ihm gar nicht auf, dass er eine fröhliche Melodie vor sich hin pfeift. Sein Blick streift noch einmal den Kokon, aus dem eben der Schmetterling geschlüpft ist. Er war Zeuge einer Verwandlung. Könnte das ein Symbol sein für unsere Welt: Dass nicht alles beim Alten bleibt, dass nicht alles den Bach hinuntergeht, sondern dass alles verwandelt wird? Und manches davon schon jetzt, anderes erst am Ende?

Sein Puls beschleunigt sich und sein Gang fühlt sich an, als hätte er Sprungfedern unter den Sohlen. Sein Kopf unterlegt die Melodie auf seinen Lippen mit einer vielstimmigen Begleitung. Sie nimmt Anlauf zu einem großen, ausgelassenen und verspielten Crescendo.

Eigentlich ist die Vorstellung ja zu gut, um nicht wahr zu sein, denkt er: Auferstehung … das würde dann ja bedeuten, dass das Schlimmste nicht das Letzte ist.

Dass das Leben letztlich kein Tatort ist, sondern ein Tanzort.

Ist es eigentlich weit nach Galiläa?

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Lernen, wie man lebt

Mein Glaube war recht schlicht und direkt: Es ging nur um Jesus. Ich wollte wissen, wer dieser Jesus wirklich ist. Die Kirche war meine Zuflucht; ich lernte etwas über Jesus und sah an seinem Beispiel, wie man lebt. Sein Beispiel, wie man lebt, eröffnete mir eine neue Freiheit, die ich fühlte, noch bevor ich sie in Worte fassen konnte. Für alle, die sich selbst, so wie ich, als Christen bezeichnen, ist Jesus der Ursprung unseres Menschseins.

aus: Walter Wink, Just Jesus. My Struggle to Become Human

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Die verpasste Chance

Hin und wieder habe ich Auslegungen der Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Markus 10,16-31) gelesen, die es irgendwie schafften, den Text völlig auf den Kopf zu stellen. Verständlich, denn wer möchte schon in einer Gesellschaft, die sich als wohlhabend und im globalen Vergleich durchaus auch als „reich“ versteht, seinen Zuhörern oder Lesern ein hartes Urteil zumuten.

Überhaupt nicht mehr klar wird dabei meistens, warum Jesus den Reichen auffordert, sein Vermögen (sprich: Grundbesitz, anders konnte man größere Beträge damals kaum anlegen) zu verkaufen und das Geld „den Armen“ zu geben und ihm nachzufolgen, wenn doch der Reichtum kein prinzipielles Problem ist, sondern nur die Tatsache, das dieses Individuum (das eher zufällig reich war, auch Arme hängen ja an Hab und Gut) etwas zu sehr an seinem Besitz zu hängen schien.

Richard Horsley, den ich nun schon mehrfach zitiert habe, verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition des mosaischen Bundes, die das Horten von Besitz, das Nehmen von Zinsen, Enteignungen von ererbtem Land verbot und auf die Rückgabe verpfändeten Gutes und den Erlass von Schulden drängte. Jesus bezieht sich, während er durch das ländliche Galiläa zieht, auf diese Traditionen. Bergpredigt und Feldrede können sogar als Erneuerung und Aktualisierung des mosaischen Bundes und Gesetzes gelesen werden (die Regeln der Essener hatten einen ähnlichen Charakter).

Anstößig ist der Reichtum des jungen Mannes nämlich deswegen, weil er sich der Armut seiner Nachbarn verdankt. Reichtum ist insofern betrügerisch, als er auf der Ausbeutung anderer beruht, die als Tagelöhner arbeiten müssen oder von ihrem Land vertrieben werden. Und Jesus ersetzt das „begehren“ in seiner Aufzählung der Gebote durch „betrügen“. Alle Beteuerungen des Reichen, er habe das Gesetz doch gehalten, werden durch die Weigerung widerlegt, den (in Jesu Auslegung des Willens Gottes) unrechtmäßigen Reichtum aufzugeben.

Indem er sich als tadellosen Anhänger des Gesetzes darstellt, betrügt der Mann sich selbst und seine Umgebung. Und er steht mit dieser Behauptung im Gegensatz zu dem, was Jesus die Dorfgemeinschaften lehrt: den gegenseitigen Erlass von Schulden, die Fürsorge für die schwächeren Glieder der Gemeinschaft, Kooperation und Solidarität. Folglich handelt der nächste Abschnitt (10,32-45) von der politischen Macht, die ebenso wie die wirtschaftliche unter dem Vorzeichen der Herrschaft Gottes steht und – damit untrennbar verbunden – der radikalen Gleichheit aller in der erneuerten Bundesgemeinschaft verpflichtet ist. Heimliche Machtansprüche der Zebedaiden (als wäre der Messias ein Herrscher, der Privilegien an Günstlinge vergibt) werden an dieser Stelle ebenso abgewiesen wie naive Vorstellungen, eine solche soziale Revolution könne vom imperialen System geduldet oder unterstützt werden.

Es ging also nicht um bloße „Almosen“ für die Armen – ein mitleidiges Verteilen von Geld, das anderen für eine begrenzte Zeit am Konsum teilnehmen lässt und irgendwann aufgebraucht ist, ohne etwas verändert zu haben. Damit wäre freilich wenig gewonnen. Doch der Mann hätte sich der messianischen Wirtschaftsrevolution anschließen können. Er hätte mit den einfachen Leuten vom Land eine Art Kibbuz gründen können und damit die nachösterliche Gütergemeinschaft der Urgemeinde vorwegnehmen können, in der Menschen, die am Boden waren, zu einem Leben in Würde ermächtigt werden.

Kein Wunder, dass Jesus – über alle persönliche Sympathie hinaus – traurig ist darüber, dass sein Gegenüber diese Einladung ausschlägt, sein Leben und das vieler anderer zu ändern. Und uns muss zu denken geben, dass Jesus hier keinen Spielraum für Verhandlungen und Kompromisse sieht…

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Stress mit bösen Geistern (2)

Ich hatte mich mir Richard Horsleys These befasst, dass sich die Unterdrückung indigener Völker durch technisch und wirtschaftlich überlegene Großreiche oder Kolonialmächte in einer signifikanten Zunahme von Bessenheitsphänomenen äußert. Die eindringenden Dämonen tragen häufig Attribute der Besatzer, der Kampf gegen sie lenkt ab von der demütigenden Aussichtslosigkeit des politischen und militärischen Kampfes, ja sie rettet die betroffenen Gemeinschaften davor, Ihr Leid durch einen Aufstand zu potenzieren.

Horsley zieht eine Parallele zum Neuen Testament. Während Geister und Engel in Israel vor der hellenistischen Zeit kaum eine Rolle spielten und vor allem nicht als eigenständigen Akteure erschienen, ändert sich das in den späten Schichten der hebräischen Bibel wie dem Danielbuch dahingehend, dass zwischen Gott (der damit in größere Ferne rückt) und Welt sich eine Sphäre von Zwischenwesen auftut, in der ein Kampf zwischen Gut und Böse tobt. Spätere jüdische Schriften wie das Henochbuch und die Texte aus Qumran malen das weiter aus. Zeitgeschichtlich fällt das mit der Besatzung durch die hellenistischen Seleukiden (davon berichten die Makkabäerbücher) und später dann durch die Eroberung und brutale Unterwerfung Palästinas durch die Römer zusammen. In Qumran wurde der „geistliche Krieg“ (meine Formulierung) rituell begangen. Deutliche Anspielungen auf Formationen der Besatzerheere trafen dabei auf Elemente der Josua-Tradition und Vorstellungen vom Gotteskrieg.

In den Evangelien finden wir zahlreiche Berichte über Dämonenaustreibungen. Solche Berichte fehlen fast völlig aus der Zeit der Selbständigkeit von Israel und Juda. Die knappen Schilderungen interessieren sich dabei im Vergleich zu vergleichbaren Texten der hellenistischen Literatur überhaupt nicht für die Techniken und Kunstgriffen des Wundertäters, dafür enthalten sie Anspielungen auf den mosaischen Exodus und die Erneuerung Israels.

Unverkennbar ist die politische Dimension (und die Parallele zum kolonialen Afrika) in Markus 5,1-20, in der sich der Dämon als „Legion“ zu erkennen gibt. Der dämonisierte Mann hingegen steht als Symptomträger für die gesamte Bevölkerung. Militärische Sprache prägt auch den weiteren Gang der Erzählung. Die Geister treiben eine Schweineherde in einen wilden Ansturm auf das „Meer“ – der See Genezareth wird zum Symbol für das Mittelmeer, über das die Römer kamen, und das Schilfmeer, in dem die Ägypter untergingen.

Dass es die Leute mit der Angst zu tun bekamen und Jesus baten, die Gegend zu verlassen, hat, so Horsley, weniger mit den tumultartigen Umständen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Maskierung der wahren Unterdrückung, einschließlich der Ursachen und Folgen, nun zusammengebrochen war und ein anderer Modus Vivendi gefunden werden musste als das gelegentliche Niederringen eines Besessenen mit vereinten Kräften. Deutlich wird in alldem: Das Kommen des Gottesreiches in den Exorzismen Jesu (mit dem „Finger Gottes“) signalisiert auch den Anfang vom Ende der römischen Gewaltherrschaft.

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Stress mit bösen Geistern (1)

Wie sind die Exorzismen Jesu zu deuten, von denen die Evangelisten so häufig unter dem Stichwort der „Machttaten“ berichten? Richard Horsley befasst sich im 5. Kapitel von Jesus and the Powers mit dieser für heutige Bibelleser vielleicht fremdartigsten Kategorie von Erzählungen im Neuen Testament und bringt interessante Aspekte in eine weithin festgefahrene Debatte.

Heutige Deutungsversuche scheitern entweder daran, dass sie in typisch neuzeitlicher Manier die Geschichten entweder als bloße Legenden behandeln, oder sie durch die dualistische Brille von Natur und „Übernatürlichem“ als wundersame Beweise für die Gottheit Christi deuten, oder dass das man Phänomen der „Besessenheit“ psychologisiert, nach heutigen Vorstellungen von Subjektivität als rein innerlicher Konflikt behandelt.

Alle drei modernen Deutungen werden den Texten nicht gerecht: Die Menschen damals erlebten es so, dass eine Macht von außen ihnen zu schaffen machte, nicht als einen rein innerlichen Konflikt. Die „Besessenen“ werden durchweg isoliert von ihrem Kontext als neuzeitliche, in sich geschlossene Individuen mit einem Leiden oder, schlimmer noch, psychischen Defekt betrachtet. Politik und Spiritualität erscheinen als ganz verschiedene Sphären, die miteinander nichts zu tun haben.

Horsley verweist auf Stimmen aus der neueren medizinischen Anthropologie, die gezeigt haben, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch Heilung gesellschaftlich konstruiert sind. Im Fall der Schulmedizin deuten wir sie beispielsweise als Fehlfunktionen biologischer und psychologischer Prozesse. Wir wissen freilich längst, dass geschichtliche und soziale, strukturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren auch eine gewichtige Rolle spielen, in der Regel blenden wir sie jedoch aus.

Phänomene von Besessenheit müssen daher umfassender aus dem kulturellen Kontext heraus verstanden werden, in dem sie auftreten. Horsley sucht zu diesem Zweck nach Analogien zum Palästina des ersten Jahrhunderts. Bei einer Reihe afríkanischer Völker gab es beim Eintreffen der ersten Europäer schon die Vorstellung, dass die Kranken und Niedergeschlagenen von den Geistern der Fremden heimgesucht werden, etwa der Araber, später dann auch der Europäer oder der christlichen Mission (in dem Fall hier der eindringende Geist dann „Kijesu“ oder im Sudan „nasarin“). Man besänftige diese fordernden und gierigen Mächte mit Getränken aus Flaschen, Weißbrot und Fleisch aus Konservendosen.

Die Invasion der Europäer sorgte dafür, dass sich die Fälle von Besessenheit massiv häuften und ständig neue Variationen entwickelten  – zum Beispiel konnten die Dämonen den Namen des viktorianischen Imperialisten Lord Cromer tragen. Bei den Zulus scheint diese Zunahme besonders intensiv gewesen zu sein, so dass die Exorzisten Menschen „impften“ durch „Soldaten“ – Geister, die ihre Träger nach Maschinenöl verlangen, sie in fremden Sprachen reden oder Lokomotivengeräusche imitieren ließen. Das sind alles vergleichsweise harmlose Aspekte der Kultur der Invasoren, mit denen man sich gegen die Gewaltherrschaft der neuen Herren schützen wollte. In den 1960er Jahren beschrieb der Psychiater Frantz Fanon Besessenheit und die Angst vor Dämonen als Konsequenz der französischen Besatzung, von der die Einheimischen als Primitive behandelt wurden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Der Impuls zum Widerstand war da, ein Aufbegehren dagegen erschien lebensgefährlich. Horsley folgert:

Als Reaktion auf die Mächte, denen sie ausgeliefert waren, glaubten die Kolonialvölker allmählich, ihre Unterwerfung sei durch keine Aktion ihrerseits zu beheben. Über ihr Schicksal bestimmten höhere, übermenschliche Mächte. Kolonialer Gewalt war nur durch noch größere Gewalt beizukommen, die ihnen nicht zur Verfügung stand. Er war offensichtlich, dass die dominierende fremde Zivilisation ihre traditionelle Lebensweise bedrohte. Entsprechend der Sicht der Kolonialherren, die die Eingeborenen als die Personifizierung des Bösen ansahen, hielten die Eingeborenen die Kolonialherren für böse.

… die Angst der Menschen vor den Dämonen stärkte so ihre Hemmungen, die ein eventuelles aggressives Handeln verhinderte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die bedrohliche Welt böser Geister, nicht auf die Instrumente kolonialer Kontrolle. Die dämonischen Mächte, nicht die konkreten Mächte imperialer Herrschaft waren Ursache ihres Leidens. Dämonenglaube war insofern ein Selbstschutz, als er das unterworfene Volk befähigte, die direkte Konfrontation mit den Kolonialherren zu vermeiden, die zu ihrem Untergang geführt hätte. Aber so war es auch ein wirksames Mittel der sozialen Kontrolle in einer Kolonialsituation und eine mystifizierende Verschleierung dieser Kolonialsituation samt der Mächte, die sie geschaffen hatten. (S. 117)

Die Beschäftigung mit dämonischer Besessenheit, die der vorhandene Geisterglaube ihnen ermöglichte, retteten die Menschen so gesehen davor, die angestaute Aggression gewaltsam gegen die Invasoren und Unterdrücker zu wenden, was aufgrund der militärischen Unterlegenheit einem kollektiven Selbstmord gleichgekommen wäre. Den Unterdrückern freilich nutzte diese Verschiebung des Problems.

Was das mit dem Neuen Testament zu tun hat, werde ich im nächsten Post kurz betrachten.

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Die Angst vor der „orientalischen Despotie“

Für meine Weihnachtspredigt habe ich mich in den vergangenen Tagen durch zahlreiche Lebensbeschreibungen des Kaisers Augustus gefressen, die zu seinem zweitausendsten Todestag dieses Jahr erschienen sind. Besonders interessant fand ich einen kleinen Absatz aus dieser Schilderung von Maria Dettenhofer, die für die Zeit den Aufstieg des Octavius zu Gottkaiser erklärt.

Um seinen Rivalen um die Alleinherrschaft im Reich, M. Antonius, loszuwerden, verbreitet er in Rom das Gerücht, dieser wolle im Falle eines Sieges die Hauptstadt nach Alexandria verlegen. Den Machtkampf im Inneren durch die Beschwörung einer Bedrohung durch Fremde aus dem Osten anzufeuern, das hat ja derzeit leider auch bei uns Hochkonjunktur. Dettenhofer führt aus:

Die „orientalische Despotie“ ist das zentrale Schlagwort in seiner Propaganda. Damit gelingt es ihm, den Krieg gegen Antonius, der für das kommende Jahr erneut als Konsul vorgesehen ist, als Krieg gegen Kleopatra, also einen äußeren Feind, darzustellen

Die Bürger bekamen keinen orientalischen, sondern einen abendländischen Despoten. In Perugia, das dem Antonius nahe stand, ließ er nach seinem Sieg 300 Einwohner zu Ehren seines Adoptivvaters Cäsar auf einem Altar abschlachten.

So aktuell kann die Bibel sein: Das Weihnachtsevangelium sieht die Heilsbringer Jesus und Augustus in einem scharfen Gegensatz. Der christliche Umgang mit Macht und dem Fremden ist dem des Imperiums diametral entgegengesetzt. Gut, dass uns das bevorstehende Fest so unmissverständlich daran erinnert.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass zwischen Braten und Besinnlichkeit, Lebkuchen und Lichterglanz dafür noch genug Raum zur fundamentalen Beunruhigung bleibt.

 

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Mit Gottes Reich ist es wie mit dem Internet…

Jesus spricht in Lukas 17 davon, dass man beim Reich Gottes nicht einfach sagen könne, es sei hier oder da. Dennoch ist es nahe, in Reichweite, am Kommen und im Wachsen begriffen. Für letzteres verwendet Jesus durchweg organische Bilder, insofern ist der Vergleich, den ich jetzt anstelle, etwas heikel. Trotzdem:

Seit etwa 20 Jahren gibt es das Internet. Auf die Frage, wo das Internet denn sei, kann man auch nicht einfach auf irgendetwas zeigen. Bildschirme, Router, Datenleitungen, Satelliten, Netzknotenpunkte, Inhalte, Nutzer, Protokolle, Software – alles gehört irgendwie dazu und nichts ist für sich genommen schon das Internet.

„Das Internet“ ist ständig im Werden. Praktisch jede(r) kann sich anschließen lassen. Zwar nutzt nicht jede(r) das Internet, manche finden es zu teuer, zu gefährlich oder zu kompliziert. Aber das Internet hat im Laufe der relativ kurzen Zeit, seit es „nahe herbeigekommen“ ist, das Leben vieler Menschen und ganzer Gesellschaften verändert – mal etwas mehr, mal etwas weniger.

Natürlich ist das Reich Gottes nicht das Internet (ebenso wenig wie das Internet das Reich des Bösen ist, wie manche argwöhnen). Aber es gibt Analogien, die uns helfen können, besser zu verstehen, wie das mit dem Reich Gottes „funktioniert“. Man lernt zum Beispiel über das Internet Menschen kennen, denen man anders bei begegnet wäre. So ist es mit dem Reich Gottes auch.

Das ließe sich jetzt bestimmt noch in verschiedene Details fortsetzen, und sicher werden manchen nun alle möglichen Aspekte einfallen, in denen der Vergleich mächtig hinkt. Schließlich hat das Internet keineswegs nur gute Seiten. Ich beschränke mich daher auf diese knappen Gedanken.

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