Eine Legion geht baden

An einem nieseligen Sonntagnachmittag warte ich vor der Nürnberger Lorenzkirche. Da höre ich, wie sich knapp hinter mir ein Schwall Wasser geräuschvoll auf das Pflaster ergießt. Ich springe zur Seite und blicke nach oben. Hoch über mir reißt ein grimmig dreinblickendes Wesen aus Stein sein Maul auf: Ein Wasserspeier, wie er an vielen mittelalterlichen Kirchen zu finden ist.

Die Steinmetze hatten ganz offensichtlich ihren Spaß an den finsteren Gestalten. Drinnen in der Kirche, auf den Altären und in den Fenstern, sind Heilige und Szenen aus der Bibel abgebildet. Für böse Geister gilt also: „Wir müssen draußen bleiben.“ Da aber haben sie ihren Platz: Als Erinnerung daran, dass in dieser Welt nicht nur gute Kräfte am Werk sind. Und vielleicht auch daran, dass wir nicht immer alles verstehen und einordnen können, was um uns herum passiert. 

Diese Faszination für skurrile Fratzen und Fabelwesen begegnet uns heute eher in der den Fantasy-Welten von Harry Potter über den Herrn der Ringe bis zu Game of Thrones. Und in Horrorfilmen wie „der Exorzist“, oder Action-Klamauk á la „Ghostbusters“, der in diesem Monat vor genau 40 Jahren ins Kino kam. If there’s something strange in the neighborhood – wenn in der Nachbarschaft komische Sachen passieren, dann holt man diese Kammerjäger fürs Paranormale. Statt Kakerlaken entfernen sie mit ordentlichem Getöse lästigen Spuk. Geister, die kein Wasser speien, aber ekligen Schleim hinterlassen. Und die verschreckten Kunden können wieder aufatmen und sich sagen: „I ain’t afraid of no ghost – ich hab keine Angst nicht vor Geistern“.

Auf der Leinwand und zwischen den Buchseiten haben Geister und Dämonen an den Rändern unseres aufgeklärten Denkens überlebt. Draußen statt drinnen, ordentlich aufgeräumt, dürfen sie sie ihr Maul aufreißen wie die Wasserspeier an alten Kirchen. Ein bisschen Gruseln ist ganz nett.

Da kann man nichts machen…?

Ganz so aufgeräumt ist die Welt freilich nicht. Denn die konkrete Erfahrung, dass es zerstörerische Kräfte gibt, oder Orte mit einer bedrückenden Atmosphäre, das kenne ich ja auch. Momente, in denen ich mich ganz bewusst dagegen stemmen muss, um nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden. Und ich höre, wie andere vom „Ungeist“ des erstarkenden Rechtsextremismus reden. Oder von den „Dämonen der Vergangenheit“, wenn Rassisten aufmarschieren und Nazi-Parolen auf Partys gegrölt werden. Dämonen, das ist und bleibt ein schillernder Begriff. Offenbar aber einer, auf den wir nicht ganz verzichten können, wenn wir darüber reden wollen, wie es uns hin und wieder ergeht.

Wenn die Bibel von Dämonen erzählt, dann handeln diese Geschichten immer von Menschen, die sich als hilflos und ohnmächtig erleben und von etwas scheinbar Übermächtigem bedroht werden. So wie in dieser Episode aus dem Markusevangelium, in der Jesus mit seinen Jüngern den See Genezareth überquert und im Gebiet der „Zehn Städte“ landet. Die Leute dort sind keine Juden. Sie sprechen Griechisch und verehren die Götter der Griechen. Aber manche Probleme gleichen sich hüben wie drüben.

Und sie kamen ans andre Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener. Und als Jesus aus dem Boot trat, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist, der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.
Als er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder und schrie laut: Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! 
Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem Menschen!

Jesus begegnet einem Menschen, der außer Rand und Band ist. Er lebt abseits der Stadt, vor allem aber gefährdet und verletzt er sich ständig selbst. Die Leute haben vor ihm Angst und wissen sich nicht anders zu helfen, als ihn zu fesseln. Sie bekommen ihn allerdings nicht so recht in den Griff. Vielleicht haben sie auch ein schlechtes Gewissen; jedenfalls sind die Stricke und Fesseln locker genug, dass er sich immer wieder befreien kann. Resignation macht sich breit: Wir haben alles versucht, nichts hat geholfen.

„Besessenheit“ und Besatzung 

Der Mann bei den Grabhöhlen scheint nicht zu wollen, dass andere ihm nahekommen. Aber Jesus tut genau das: Kaum setzt er – vom jüdischen Ufer des Sees kommend – seinen Fuß auf heidnischen Boden, kommt Bewegung in die festgefahrene Situation. Unwiderstehlich zieht es den Mann zu Jesus hin. Oder wird er von dem bösen Geist getrieben? Es klingt fast so! Und Jesus? Der wirkt kein bisschen überrascht. Er scheint gespürt zu haben, dass da unheilvolle Kräfte wirken, die er mit seiner Ankunft aufscheucht. Jesus fragt seelenruhig: 

Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe.

Der kurze Wortwechsel ist aufschlussreich: 

Die Dämonen geben sich als „Legion“ zu erkennen. Also die militärische Formation, mit der das römische Imperium seine knallharte Besatzungspolitik durchsetzt in dieser unruhigen Region. Gerasa war ursprünglich eine Ansiedlung mazedonischer Kriegsveteranen durch Alexander den Großen und seine Nachfolger. Und tatsächlich ist auch zu der Zeit, als Markus sein Evangelium niederschrieb, ganz in der Nähe eine Legion stationiert. Wirtschaftlich und psychisch ist das eine riesige Belastung für die einfachen Leute. Liebend gern hätten sie die Soldaten aus der Gegend vertrieben. Zwischen „Besessenheit“ und „Besatzung“ besteht offenbar ein Zusammenhang. 

Und der Mann, aus dem die Geisterarmee gerade zu sprechen scheint, ist keineswegs der einzige Betroffene. In seiner Person verdichten sich sämtliche Ohnmachtsgefühle der ganzen Umgebung, von allen, die hier leben. Manchmal kann halt nur einer, der sich wie ein Verrückter benimmt, ungestraft den Wahnsinn aussprechen, den alle tagein, tagaus erleben. 

Im Neuen Testament ist viel häufiger von Dämonen die Rede als im Ersten Testament, der hebräischen Bibel. Die stammt überwiegend aus der Zeit, in der Israel nicht besetzt war, sondern eigenständig. Es war für mich ein echtes Aha-Erlebnis, als ich auf Berichte aus der Kolonialzeit in Afrika aufmerksam wurde. Dort häuften sich mit dem Eindringen der Europäer die Fälle von Menschen, die unter Dämonen litten. Oft trugen die Geister Namen, die mit den Besatzern zu tun hatten. Manche imitierten das Geräusch einer Lokomotive. Und umgekehrt verwendeten die Heilkundigen Motoröl, Konservendosen oder Weißbrot, um die Geister fernzuhalten oder zu besänftigen: Typische Gegenstände jener Kultur, die ihre eigene bedrohte. 

Jedes gewaltsame Aufbegehren gegen die reale Besatzung wäre glatter Selbstmord gewesen. Und jedes friedliche wurde gewaltsam niedergeschlagen. Im Scheingefecht mit den Dämonen war die Ohnmacht vorübergehend aufgehoben. Eine tödliche Eskalation äußerer Gewalt war trotzdem nicht zu befürchten.

Die Dämonen, auf die Jesus hier trifft, sind also keine paranormalen Spukphänomene, und auch keine wüsten Poltergeister wie bei Ghostbusters. Sie sind keine immateriellen Kobolde oder spirituellen Parasiten, die man sich wie Zecken oder Fußpilz irgendwo einfängt. Es geht auch nicht um die Seelen Verstorbener, die keine Ruhe finden und deshalb die Lebenden heimsuchen. In der Ein-Mann-Legion spiegelt sich vielmehr jener Teil der Wirklichkeit, den alle am liebsten vergessen und ausblenden würden: Das Ausgeliefertsein an fremde Eindringlinge, die Einschüchterungen und Demütigungen, die Angst vor Willkür und Gewalt, die angestaute Wut über die eigene Schwäche und der verzweifelte Hass auf die Warlords/Kriegstreiber und ihre Handlanger. 

„Wenn du dich so machtlos fühlst, was wirst du dann tun?“, fragt Nelly Furtado. Sie fragt das als Kind von Einwanderern aus den Azoren. Soll sie sich an die weiße Mehrheit in Kanada anpassen, ihre Fotos retuschieren lassen und damit ihre Herkunft ausradieren? Oder riskiert sie, als fremd und störend ausgegrenzt zu werden – von einer Gesellschaft, die es sich noch immer nicht abgewöhnt hat, nicht-weiße Menschen als „Wilde“ zu betrachten. Dafür, findet sie, ist das Leben zu kurz. 

Und plötzlich eskaliert das Ganze…

Zum Glück nicht: Mit dem Augenblick der Wahrheit über die „Legion“, die ihm so zusetzt, geht die Action erst richtig los. Und für einen kurzen Augenblick erinnert die Szene doch an Ghostbusters, wenn es da (Landwirte und Tierschützerinnen bitte kurz weghören) heißt:

Es war aber dort an den Bergen eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer.

Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, den, der die Legion unreiner Geister gehabt hatte; und sie fürchteten sich.

Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war und das von den Säuen. Und sie fingen an und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen.

Die „Legion“ verhandelt wie eine echte Armee über ihren Abzug. Oder besser: Nicht-Abzug. Die Dämonen möchten nämlich in der Gegend bleiben. Sie bieten an, in ein anderes „Quartier“ umzuziehen – beziehungsweise, das trifft es wohl besser, ihre derzeitige Geisel gegen andere einzutauschen. Schweine gelten für Juden als unrein, vielleicht ist ja der Rabbi aus Nazareth bereit, sich auf einen Deal zu einzulassen? 

Und tatsächlich – Jesus stimmt zu. Doch im nächsten Moment zerschlägt sich schon jede Hoffnung, ungeschoren davonzukommen: Hat Jesus es geahnt, hat er es vielleicht so geplant, oder passiert das alles spontan – wir erfahren es nicht. Wir lesen nur, dass die Schweine prompt den Hügel hinunterrasen und im Wasser untergehen. Die Geisterarmee versenkt sich selbst auf ihrer Flucht nach Westen.

Nach Westen, und das ist kein Zufall. Von Westen über das Meer kamen nämlich die römischen Schiffe, die Soldaten brachten und den größten Teil dessen mitnahmen, was Land und Leute erwirtschaftet hatten. Viele Menschen in der Region – Juden wie Griechen – hätten die Besatzer liebend gern nach Westen ins Meer zurückgedrängt. Und jetzt spielt sich genau das vor ihrer Nase ab, nur dass keine Menschen zu Schaden kommen. Zweitausend Schweine, das sind eine gewaltige Herde. Nicht ganz so viele, wie eine römische Legion Soldaten hat, aber die Richtung stimmt, und darauf kommt es an. Das ist mehr als ein Scheingefecht. Es ist ein Paukenschlag für die Freiheit, der weit ins Land hinein zu hören ist.

Schon einmal hat ein jüdischer Prophet eine Armee im Meer untergehen lassen. Aber an den Showdown zwischen Mose und den Ägyptern am Schilfmeer denkt im Augenblick nicht jeder. Denn alle staunen, dass der „Besessene“ plötzlich wie ausgewechselt erscheint: Er ist anständig gekleidet, seine Stimmung ausgeglichen, die Kontrollverluste überstanden. 

Er ist sogar ganz erschreckend normal

Freiheit, die nicht alle freut

Das kleine Drama weckt bei dem Umstehenden die Neugier und verursacht zugleich eine Menge Unbehagen. Es bleibt auch unklar, ob das Unbehagen eher dem Verlust der Schweine zuzuschreiben ist oder der Veränderung des Mannes, mit dem die Dämonen ihr böses Spiel getrieben hatten. Vielleicht wissen die Menschen es selbst nicht. Mit der veränderten Lage tut sich für sie ein Problem auf: Solange da ein „Besessener“ herumläuft, kann man sich daran abarbeiten. Oder sich daran gewöhnen und irgendwie damit arrangieren. So oder so braucht man keine Fragen zu stellen, auf die man die Antwort gar nicht wissen will.

In der Familientherapie ist das ein bekanntes Phänomen. In dysfunktionalen Familien, wo Menschen nicht miteinander klar kommen und einander immer wieder verletzen, gibt es oft ein „schwarzes Schaf“. Ein Familienmitglied, das sich auffällig verhält und auf das alle zeigen, wenn es um die Probleme im Miteinander geht. Es ist aber nur der Symptomträger, und nicht der Hauptverursacher der bestehenden Probleme. Das ist oft die einzige Person, die nicht am Rad dreht. Jesus hat das Schwarze Schaf aus seiner Rolle entlassen. Und plötzlich kriegen alle anderen die Krise.  

Die Situation erinnert ein bisschen an jenen alten Witz von dem Betrunkenen, der im Lichtkegel einer Straßenlaterne seinen Haustürschlüssel sucht. Eine Nachbarin kommt vorbei und hilft suchen. Nach einer Weile fragt sie: „Bist du sicher, dass du den Schlüssel hier verloren hast?“ Er antwortet: „Nein, da hinten. Aber da ist es viel zu dunkel.“

Den Symptomträger in eine Klinik zu stecken, ihn mit Medikamenten ruhigzustellen, während alles bleibt, wie es ist, das wäre so eine Schlüsselsuche unter der Laterne. Ihn im desolaten Zustand bei den Gräbern hausen zu lassen, auch. Aber das geht jetzt nicht mehr. Nicht, so lange Jesus da ist. Und ich merke: Kein Wunder, dass nicht nur die Schweinehirten möchten, dass er verschwindet. Der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme liegt im dämonischen Dunkel ihrer Ängste und Albträume. Da wird man ganz schnell überwältigt.

Es sei denn…

Kleine Aufstände allenthalben

Es sei denn, die Gerasener könnten in dem ganzen Tumult auch erkennen, dass sich das un- und übermenschliche Böse gerade selbst zerstört hat. Dass im Untergang der Schweinelegion sogar schon der Untergang der römischen Militärdiktatur durchschimmert. Dass da schon jemand im Namen Gottes unterwegs ist, der ganz erstaunlich furchtlos und handlungsfähig ist, und der Menschen aus ihrer Ohnmacht und Verzweiflung herausholt. 

Wir leben derzeit zum Glück nicht unter fremder Besatzung oder in einer Diktatur. Ohnmachtsgefühle und alles, was sie begleitet, kennen wir trotzdem. Sie entstehen bei uns durch Probleme, die wir als einzelne lösen sollen, obwohl sie viel zu groß sind für jede und jeden einzelnen: 

  • Wenn durch Inflation und Spekulation die Mietpreise explodieren und die Armut zunimmt, ist Obdachlosigkeit nicht einfach nur das Problem einzelner, die irgendwie versagt haben. 
  • Die Klimakrise trifft die am härtesten, die am wenigsten dafür können. Egal wie radikal ich meinen persönlichen Konsum ändere, es reicht noch lange nicht aus, um sie zu stoppen. 
  • Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt von Männern werden, erleben diese Übergriffe als etwas ganz Persönliches und Intimes. Es dauert oft lange, bis sie aufhören, den Fehler bei sich selbst zu suchen. Bis sie Worte finden für das, was ihnen angetan wurde. Erst dann zeigt sich: Nicht nur ein paar wenige sind betroffen. Und die Täter finden immer wieder Wege, ihre Schuld zu verschleiern, weil es Denkmuster und Machtkonstellationen gibt, die das fördern und begünstigen. (Auch in unserer Kirche.)

Wenn die Autor:innen der Bibel von Dämonen erzählen, dann zeigt es, wie ernst sie die Schadensmächte nehmen, die Menschen anfallen. Die sie so lange drangsalieren, bis sie sich nicht mehr vorstellen können, dass sich etwas ändert – bis ihnen die Kraft abhanden kommt, sich zu wehren. Das sind keine bloßen Wahnvorstellungen, kein primitiver Aberglaube, und wer so empfindet, ist nicht verrückter als alle anderen. 

Diese krasse Geschichte tut mir richtig gut. Ich staune erleichtert darüber, wie das Böse, das manchmal so übermächtig auftrumpft, sich selbst zerstört. Gegen die Resignation ist also doch ein Kraut gewachsen: Gott selbst hat den destruktiven Mächten und Gewalten dieser Welt den Kampf angesagt. Er hat sich in Jesus auf die Seite der Ohnmächtigen und Traumatisierten geschlagen. Er erleidet am Kreuz dieselbe brutale Gewalt wie sie. Aber er zerbricht nicht daran. Er kommt mit dem verlorenen Schlüssel in der Hand aus der tiefsten Dunkelheit zurück und schließt die Tür zur Freiheit auf. Am Ende seines Evangeliums erzählt Markus die verrückteste Geschichte von allen: Vom leeren Grab. Und deutet damit an: Niemand ist jetzt vor Jesus mehr sicher. Er könnte wer weiß wo auftauchen…

Denn so wie der irdische Jesus auf Schritt und Tritt kleine, gewaltlose Aufstände vom Zaun gebrochen hat, so tut der Auferstandene das nun überall da, wo sich Menschen auf ihn einlassen und mit ihm zusammentun. Da endet die Machtlosigkeit und die Isolation. Da geht was. Und manchmal, manchmal auch ein bisschen mehr.

Die Jars of Clay singen davon, dass hoffnungslose Fälle Gottes Spezialität sind. Und dass Gott Menschen Kraft und Mut schenkt, sich einzumischen: „Small rebellions… Gib uns Tage, die voller kleiner Aufstände sind. Mutwillige, wüste Akte der Freundlichkeit von uns allen. Wir stemmen uns gegen den Strom (und den Verfall). 

Und am Ende singen sie: We will never walk alone.

(Foto von Claudio Mota auf unsplash.com)

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Leichtgläubige Skepsis

Gegenüber im Zug sitzt ein freundlicher älterer Herr, der mir auf der Fahrt seine lange Krankheitsgeschichte und Berufsbiografie erzählt, um dann zu fragen, was ich eigentlich so mache. Pfarrer, sage ich. Er sei schon vor langer Zeit ausgetreten, erklärt er daraufhin, freilich aus der katholischen Kirche. Die evangelische scheint ihm etwas sympathischer zu sein, sie hat halt keinen Papst.

Aber nicht sympathisch genug, um dort einzutreten. Die Bibel sei ja erst im vierten Jahrhundert geschrieben worden, erklärt er mir dann, auf Geheiß von Kaiser Konstantin und für das leichtgläubige Kirchenvolk. Hingegen sei die Wahrheit über Jesus und die ersten Christen, die sich in den viel älteren und daher authentischeren Schriften aus Qumran findet, ja vom Papst unterdrückt worden. Jesus sei mit Maria Magdalena verheiratet gewesen, und das dürfe ja nicht sein, daher wurde es vertuscht, wie vieles andere.

Ich höre eine Weile zu und sage dann: „Für einen Skeptiker glauben Sie ja doch eine ganze Menge. Soweit ich weiß, ist in den Texten von Qumran von einem verheirateten Jesus nicht die Rede?“ Er ist sich aber ganz sicher. Also relativ sicher, meint er schließlich. Aber jeder könne sich auch mal täuschen. Ich bin nicht sicher, wen von uns beiden er jetzt gerade meint, aber dann hält der Zug und unsere Wege trennen sich.

Und ich denke mir: In gewisser Weise haben wir es immer mit Hörensagen zu tun, wenn wir davon reden, dass sich Gott in menschlicher Geschichte offenbart. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man etwas glaubt, was irgendwo im Internet oder bei irgendeinem Bestsellerautor steht – oder sich auf Traditionen bezieht, die sich seit Generationen immer wieder in Frage stellen lassen und sich ihrer Grundlagen immer wieder kritsch vergewissern, ohne damit je aufzuhören.

So einen unerschütterlichen Glauben, wie der freundliche Mitreisende hatte, bringe ich jedenfalls nicht auf.

(Foto: Tanner Mardis auf Unsplash)

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Die lange Nacht und der helle Morgenstern

In meiner Straße leuchten zur Zeit Sterne überall aus den Fenstern, wenn es dunkel wird. Sterne gehören zu Weihnachten, ebenso wie die Nacht, in der die Engel bei den Hirten erscheinen und der Stern die Weisen lotst.

Die „heilige Nacht“ erinnert an Nächte, die nicht enden sollten – verliebt, im Glücksrausch, im Flow. Sie erinnert auch an Nächte, die nicht enden wollen. Mit einem kranken Kind, mit Schmerzen, mit Sorgen, die mir keine Ruhe lassen, mit schlechten Träumen.

Viele von uns haben das Gefühl, dass sich unsere Welt verdunkelt hat in den letzten Jahren. Pandemie, Kriege und viele ungelöste Probleme, die wir vor uns herschieben. Und dann noch unsere privaten und persönlichen dunklen Stunden und Wegstrecken. Wird es noch einmal besser? Wann hört das auf?

Wer in diesen Tagen vor Sonnenaufgang an den Himmel schaut, kann den Morgenstern sehen. Heller als alle anderen. Wenn er erscheint, dann ist es die längste Zeit dunkel gewesen. Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher. Auch wenn es in diesem Moment noch stockdunkel ist.

Das liegt an der besonderen Beziehung zwischen Erde, Sonne und dem Morgenstern – unserem Nachbarplaneten, der Venus. Sie ist immer in der Nähe der Sonne zu sehen. Und ihr helles Licht ist das Licht der demnächst aufgehenden Sonne.

In der Bibel wird Jesus ab und zu als „Morgenstern“ bezeichnet. Das ist wunderbar poetisch. Aber wie kommen die Menschen in der Bibel dazu, Jesus als Morgenstern zu bezeichnen, als den Vorboten des neuen Tages für die Welt und uns? Ist das mehr als bloß Zweckoptimismus?

Ja, und das liegt an seiner besonderen Beziehung, in der Jesus zu Gott und zu uns steht. Jesus ist in unser Universum gekommen und an unserer Seite, und er ist Gott so nahe, dass Gottes Licht und Liebe und Schöpferkraft aus ihm hervorstrahlen wie nirgendwo sonst. Die Nacht dauert zwar noch an, es ist noch ziemlich dunkel, aber das Ende ist schon besiegelt. Es wird nicht ewig so weitergehen. Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis kriegt es nicht in den Griff.

An Weihnachten feiern wir den Beginn einer großen Verwandlung. Sie beginnt in Gott selbst. Er legt sich unwiderruflich fest auf diese Liebe zu seiner kaputten Welt. Mein Computer warnt mich manchmal: „Sie können den folgenden Arbeitsschritt nicht mehr rückgängig machen. Möchten sie fortfahren oder abbrechen?“ Wir feiern, dass Gott sich fürs „Fortfahren“ entschieden hat. Wohl wissend, dass dieser Weg zu neuem Leben für die Welt durch den Tod am Kreuz führt.

So sehr identifiziert er sich mit seinen Geschöpfen. Und wir können zwar die Welt und die Lebewesen auf der Erde zerstören, aber nicht Gott. Mitten in der Welt existiert jetzt eine Quelle von Leben und Güte und Kraft, die größer ist als die Welt selbst und alle Verwüstung, die in ihr herrscht. 

Weil Gott sich so festgelegt hat, deshalb besteht heute Hoffnung für uns: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Paulus nennt ihn den „Erstgeborenen der neuen Schöpfung“. Dieser Anfang liegt zwar schon in der Vergangenheit, aber seine ganze Wirkung hat er noch gar nicht entfaltet.

So sicher wie der Morgenstern sich zeigt, so sicher kommt der Tag. So sicher, wie Jesus sich auf den Weg machte zu uns, so sicher bringt er uns zum Ziel. Also feiern wir heute schon mal ein Ende von Krieg, Hass, Unterdrückung, Einsamkeit, Krankheit, Verzweiflung und Tod. Das ist alles noch da, aber nicht mehr übermächtig. Übermächtig ist die Liebe. Und darüber dürfen wir uns ausgelassen freuen. 

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Das Wort, die Widerworte und eine gefährliche Nachbarschaft (Weihnachten 2018)

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Joh 1,14

Worte werden Fleisch

Das ist eine alltägliche Sache, im Großen wie im Kleinen. 

Parolen, Polemik und Propaganda setzen Dinge – Ideen, Forderungen, Stimmungen – in die Welt. Sie bewegen Menschen, gehen ihnen schließlich in Fleisch und Blut über und führen ein Eigenleben. Dann folgen menschliche Köpfe, Hände und Füße einem Aufruf zum Streik, sie begehren auf, stimmen ab, randalieren. Und weil Propaganda immer ein problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kommt dabei derzeit oft nichts Gutes heraus.

Aber auch Lieder und Liebeserklärungen „werden Fleisch“. Menschen fassen Vertrauen und versprechen sich einander. Sie bekommen Kinder, für die sie sorgen und die irgendwann ihre eigenen Liebeserklärungen wagen. Keine glückliche Beziehung ohne Gesten und Worte der Zuneigung. Keine soziale Bewegung ohne diesen Treibstoff.

Entscheidend ist, welches Wort genau Fleisch wird. Und wo. Und wozu.

Sagen, was wird

Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendein Wort unter anderen. Es ist das Wort des schöpferischen Anfangs. Nicht so sehr eines zeitlichen Anfangs, der mit jedem Jahr in größere Ferne rückt, sondern der verlässliche, tragende Grund der Wirklichkeit.

Es ist keine „Information“, sondern ein Anruf – an die Sterne, das Meer und die Menschen: „Tretet ins Leben“ – „zeigt euch“. Und seither geschieht es, andauernd: Leben entsteht und erneuert sich. Beziehungen entstehen und entfalten sich. Geschöpfe antworten auf die An-Sprache Gottes, der sie beim Namen ruft, mit ihrer eigenen Stimme.

Das Wort, mit dem Gott sagt, was wird, ist also der Grund-Satz, der uns in die Wirklichkeit stellt und dort erdet. Vor aller Zwiespältigkeit, Verzerrung und Lüge, die es nun freilich auch gibt. Die Lüge aber ist eben deshalb ein Skandal, weil es Wahrheit gibt und weil Vertrauenkönnen für uns so wichtig ist.

Die Lüge sagt das, was nicht ist, so, als wäre es der Fall.

Sagen, was (nicht?) ist

„Sagen, was ist.“ Das Motto des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein ist das Mantra des deutschen Journalismus. In der vergangenen Woche hat dieser ehrgeizige Anspruch auf Wahrhaftigkeit durch den Skandal über erfundene – erlogene! – Reportagen von Claus Relotius schwer gelitten. Eine Flut von Erklärungen, Kommentaren und Diskussionen war die Folge. 

Die Krisenstimmung hat mit dem Anspruch zu tun. Der Autor Erik Flügge skizziert das Dilemma hinter dem Rauschen im Blätterwald:

„In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird. […] Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.“


Skrupellose Widerworte und die vergeblichen Erwiderungen darauf. Gnade und Wahrheit verschüttet unter Lügen. Licht mitten in der Finsternis.

Kein Wunder, dass DAS Wort in eine Welt kommt, die nichts begreift, es nicht wahr- und aufnimmt. Es trifft ja nicht auf Stille des Anfangs, sondern auf ein Gewirr von Stimmen und Worten. Zu viele Lügen. Zuviel Misstrauen. Zuviel Resignation. Damals wie heute.

unsplash-logoBreno Assis

Zeltplätze und Nachbarschaften

Übersetzt man Joh 1,14 wörtlich, dann steht da: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns.“ Eine Anspielung auf den nomadischen, vagabundierenden Gott Israels, der mit seinem Volk umherzieht und sich in keinen Tempel einmauern lässt. Und auf den umherziehenden, mobilen Messias, der das Wandern in der Fremde wieder aufnimmt.

Ich wohne in einem Reihenhaus. Ein Bekannter hat einmal gesagt: Im Reihenhaus wohnst du wie auf dem Campingplatz. Und er hat Recht: Man bekommt alles mit: Bellende Hunde, Klavierstunden, Partys, den Qualm vom Grill, maulende Kinder und schimpfende Eltern. Das kann nerven, aber auch tröstlich sein. Eine Nachbarin sagte neulich zur anderen „Es hat mir so gut getan, zu hören, wie du dein Kind angeschrien hast“. Deswegen ist es ganz zutreffend, dass Eugene Peterson hier statt „zeltete unter uns“ übersetzt: „Das Wort wurde Fleisch und Blut und zog in die Nachbarschaft.“

Nachbarschaft. Ich halte diese Predigt ja zweimal, und zwar in benachbarten Gemeinden: Zabo und Mögeldorf.  In Zabo hat es in der jüngeren Vergangenheit mächtig geknirscht. Neulich sagte ein Gemeindeglied traurig und ein bisschen beschämt: „Jetzt reden sogar die Mögeldorfer über uns“. Ich habe dann nur gesagt: „Mag sein. Aber ich könnte  mir vorstellen, die Mögeldorfer sind vor allem froh, dass gerade nicht über sie geredet wird.“ So ist das eben unter Nachbarn. Mal hat die eine die Krise, mal der andere.

Man wird mit seinen Nachbarn häufig in einen Topf geworfen, nach dem Motto: „Mitgefangen, mitgehangen“: „Die Zaboraner zanken.“ „Die Mögeldorfer wollen immer das letzte Wort haben.“ Das kann ärgerlich sein oder lustig, und ab und zu auch gefährlich.

Gefährliche Nachbarschaften

Ich habe in diesem Jahr den Begriff der „gefährlichen Nachbarschaft“ gelernt. Da geht es um gesellschaftpolitische Fragen. Zum Beispiel so: Pegida kapert traditionelle Weihnachtslieder und gibt ihnen damit eine völkische, fremdenfeindliche Bedeutung. Es wird plötzlich schwerer, sie unbefangen zu singen, weil wir ja das genaue Gegenteil damit verbinden: Den menschenfreundlichen Gott, der alles nationale Pathos ins Leere laufen lässt. Aus ähnlich gegensätzlichen Motiven hängen Menschen seit diesem Jahr Kreuze auf (oder lassen es bleiben).

Aber es betrifft nicht nur religiöse Fragen: Die Feministin Antje Schrupp skizzierte vor einer Weile die äußerliche Nähe zwischen den Anstrengungen zur gesellschaftlichen Anerkennung unbezahlter (in der Regel weiblicher) Haus- und Pflegearbeit auf der einen Seite und einer Verklärung des hausfraulichen Apfelkuchenbackens à la Eva Herman auf der anderen. Die einen wollen Gleichbehandlung unterschiedlicher Tätigkeiten, die anderen patriarchale Geschlechterrollen festschreiben. Schrupp stellt fest, dass diese Nachbarschaft zu schwierigen Reflexen führen kann:

»Sagen sie „Heimat“, erklären wir das Wort für prinzipiell unbrauchbar. Kritisieren sie die „Systempresse“ müssen wir die Medien auf jeden Fall in Schutz nehmen. Jede Position, die Rechte vertreten, wird prinzipiell problematisch, weil man damit automatisch in den Verdacht gerät, ebenfalls rechts zu sein: Was, du backst gerne Apfelkuchen? Aber Eva Herman!!!«


Mir fällt ein Bekannter ein, der immer ausgesprochen progressiv (und im damaligen Sinne „links“) war. Dann hat er sich wie Thilo Sarrazin zum zornigen Islam- und Migrationskritiker mit repressiven Tendenzen gewandelt. Wir haben äußerlich immer noch einiges gemeinsam, trotzdem sind wir uns fremd geworden.

Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Aber zurück zur Bibel:

In genau solche Nachbarschaften mit ihren Animositäten, Allergien und Vorurteilen begibt sich das Wort: Noch im selben Kapitel lesen wir, wie Nathanael fragt: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Damit beginnt eine ganze Reihe von Urteilen, die über Jesus gefällt werden:

  • „Was, du willst den Römern nicht an die Gurgel? Dann bist du ein Verräter an der Sache Gottes! Oder einfach nur ein Feigling?“
  • „Was, du gibst dich mit Sündern ab und verurteilst sie nicht? Du setzt dich über die Reinheitsvorschriften unserer Religion hinweg? Du störst den Opfergottesdienst im Tempel? Dann bist du ein falscher Prophet.“
  • „Was, du verkündest das Reich Gottes in dieser Welt? Dann bist Du ein Aufrührer und Terrorist. Besser, wir bringen dich gleich um.“

Das leibhaftige Wort umgibt sich mit Menschen, die ihrerseits eine gefährliche Nachbarschaft bilden: Simon, der Zelot (ein Terrorsympathisant), Levi, der Zöllner (ein Profiteur der Besatzung), Petrus, der Hitzkopf – und natürlich Judas…

Die Tür in der Nähe

In dieser Nähe liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Hoffnung. „Rechts“ und „links“ liegen nicht Lichtjahre auseinander. Das eine ist nicht in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil des anderen. Irgendwann hat sich mein autoritaristischer Nachbar oder Bekannter entschlossen, durch diese problematische Tür ganz in der Nähe zu gehen. Die Nähe braucht mich aber nicht zu irritieren oder zu alarmieren, auch nicht die Gemeinsamkeiten wie der Apfelkuchen.

Weihnachten heißt: Das Wort hat sich auch in meine gefährliche Nachbarschaft begeben. In dem „unter uns“ des Evangelisten Johannes sind ja auch wir Heutigen eingeschlossen. Meine Fehler und Dummheiten, meine Versäumnisse und Verstrickungen fallen auf ihn zurück. Gott nimmt das ganz bewusst in Kauf. Und für mich ist eine Tür offen in ein neues, anderes Leben. Ganz in der Nähe. Überall da, wo ich falsch abgebogen bin und Lügen auf den Leim gehe oder mich selbst betrüge. Denn das mit der Tür funktioniert auch in umgekehrter Richtung – von der Ausgrenzung zur Umarmung, von der Feindschaft zum Frieden.

Kann ich das auch: Zankenden und zeternden, zugänglichen und zauberhaften Menschen ein guter Nachbar sein? Vielleicht handle ich mir das eine oder andere Missverständnis ein. Aber das hier ist nun eben die Nachbarschaft, in die Gott mich stellt. Wie schön, dass Sie alle dazugehören. Und wenn wir dieser Spur folgen – wer weiß, was wir nächstes Weihnachten einander alles über Gnade und Wahrheit erzählen können?

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Schotty und das leere Grab

Der größte Spaß an Ostern ist für viele Kinder das Eiersuchen. Jemand hat sie versteckt und man muss genau hinsehen, um sie zu finden. Ostern ist das Fest für Entdecker. Etwas ist der oberflächlichen Betrachtung verborgen, und wer es findet (egal, ob er danach gesucht hat oder zufällig darüber stolpert), der freut sich darüber. An Ostern geht es um eine große Überraschung. Aber wie kann man von etwas freudig überrascht werden, das sich jedes Jahr wiederholt? Wann wird aus Begeisterung Routine?

Heiko Schotte alias „Schotty“, der Tatortreiniger, ist längst eine Kultfigur im deutschen Fernsehen. Für die Firma Lausen Gebäudereinigung entfernt er die Spuren von Verbrechen, nachdem die Polizei ihre Arbeit getan hat. Wenn er den letzten Dreck wegmacht, begegnen ihm die merkwürdigsten Menschen und Situationen. Wie sähe die Szenerie, die das Osterevangelium (Matthäus 28,1-8) beschreibt, wohl durch seine Augen betrachtet aus? Es könnte sich ungefähr so abspielen:

Schotty kommt mit seinen Kisten und Utensilien bepackt am Grab an. Dort steht ein Wachmann von Zion Security. Schotty stellt sich vor und fragt, wo er saubermachen soll. Der Wachmann deutet auf den Eingang zu einem Felsengrab. Eine Leiche sei verschwunden. Vermutlich geklaut. Der Wachmann sagt, er würde dann gehen, er stehe jetzt schon ein paar Tage hier rum und müsse endlich mal seine Überstunden abfeiern.

Schotty wundert sich, warum dieses Grab bewacht wurde. Normal klauen Grabräuber die Beigaben und lassen die Leiche liegen. Haben die Behörden jetzt etwa schon Angst vor den Toten? Oder waren sie nicht sicher, ob der Tote wirklich tot war? Doch, schon, sagt der Wachmann. Die Hinrichtung haben römische Profis gemacht, sowas hat bisher noch niemand überlebt. Die stellen sicher, dass solche Troublemaker keine Chance haben, nochmal zurückzuschlagen.

Hinrichtung –, fragt Schotty, gehe es um einen Verbrecher? Ja, sowas in der Art, sagt der Wachmann. Ein selbsternannter Prophet aus Galiläa, der auf der Straße und im Tempel die Behörden provoziert hatte. Früher oder später arte sowas immer in Gewalt aus, da habe man eben mal präventiv durchgegriffen, weil auch noch so viele Festbesucher in der Stadt seien, da kippt die Stimmung schnell. Man wollte keine Versammlungen am Grab, daher sei das Grundstück abgeriegelt worden.

Am Eingang zum Grab entdeckt Schotty einen kleinen Blutfleck. Der Wachmann sagt, das sei Blut von einem Kollegen, der gestürzt sei, weil ihn ein Licht blendete. Nur eine Platzwunde. Schotty fragt, ob es denn keinen Kampf gegeben habe, wenn das ein Überfall war. Der Wachmann meint, nun sichtbar verlegen, dass außer dem einem grellen Blitz und einem heftigen Donnergrollen nichts zu sehen war. Niemand ging zum Grab hinein, Rauskommen sei ohnehin nicht möglich. Schotty könne das gern mal probieren – er solle einfach mal reingehen und der Wachmann würde dann das Grab schließen…?

Schotty lehnt dankend ab. Er überlegt kurz, dann zwinkert er dem Wachmann zu: Mir kannst du es ja ruhig sagen. Ihr habt zu tief ins Glas geschaut und der Kollege hat sich im Suff verletzt, oder? Der Wachmann zuckt resigniert mit den Schultern. Er fürchte, auch seine Vorgesetzten könnten glauben, das sei alles eine Ausrede und die Wachmannschaft sei breit gewesen oder im Tiefschlaf versunken. Dabei schreckt bei einem solchen Gewitter auch der schlimmste Säufer auf. Womöglich gebe es jetzt eine Gehaltskürzung, dabei habe keiner der Kollegen sich etwas zu schulden kommen lassen. Und der Sold sei eh schon so bescheiden, dass man im teuren Jerusalem damit kaum überleben könne.

Schotty kratzt sich nachdenklich am Kopf: Es sei ja schon vorgekommen, dass sich Feinde eines Toten bemächtigen, um die Leiche schänden und die Gegner zu schockieren. Aber die Anhänger von irgendwelchen Führern seien doch eher froh, wenn sie ein Grab haben, zu dem sie hinpilgern können, um zu trauern und sich zu erinnern. So wie das Grab des Königs David auf dem Zion oder das von Abraham und Isaak in Hebron vielleicht.

Ja, sagt der Wachmann, sowas hätten die dunkel gekleideten Frauen auch im Sinn gehabt, die gleich nach Blitz und Donner kamen und ins Grab wollten. Die jedenfalls wollten den Toten einbalsamieren, nicht mitnehmen. Eine habe vor Schreck über das Verschwinden des Toten ihr Salbengefäß fallen lassen, so perplex sei sie gewesen, als sie das Grab leer fand. Er zeigt auf einen Ölfleck auf dem Boden im Grab. Die drei Ladies seien ganz verstört gewesen, und nach einer Weile des kopflosen Herumlaufens, lauten Diskutierens und erschöpften Schweigens hätten sie den Garten eilig verlassen. Anscheinend wollten sie plötzlich zurück nach Galiläa, da kamen sie dem Dialekt nach auch her. Sie wirkten merkwürdig aufgeregt, nicht mehr so deprimiert wie am Anfang.

Schotty überlegt, wie er das Öl am besten wegbekommt. Wenigstens riecht es gut. Aber man sieht im Halbdunkel nicht genau, ob man auch alle Spritzer erwischt hat. Nicht, dass es hinterher Reklamationen gibt, wenn eh schon politische Verwicklungen drohen.

Immerhin habe sich die Sache in der Stadt noch nicht herumgesprochen, tröstet sich der Wachmann, und die drei Frauen hätten die Wachleute bisher nicht angeschwärzt. Glück für ihn, dass keine Männer dabei waren, den Frauen glaubt sowieso niemand bei Gericht. Weiß ja jeder, was die so alles reden, wenn der Tag lang ist…

Sagt’s und packt seine Sachen.

Schotty ist allein im Grab. Er kehrt den Staub vom Fußboden zusammen und als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, sucht er wieder nach dem Fleck. Dabei fallen ihm ein paar Tücher auf, die in einer Nische liegen. Trockene Blutreste kleben daran, man kann die Wundränder noch ahnen, die sich bedeckt haben müssen.

Die Sonne scheint zum Eingang herein, es wird allmählich wärmer, und von draußen hört man Vogelgezwitscher. Ein warmer Windhauch streift sein Gesicht. Er bringt den Duft von frischem Gras mit. Als Schotty sich bückt, sieht er, wie sich ein Schatten rasch durch den Lichtfleck am Eingang bewegt. Nicht, dass mich hier jetzt irgendein Witzbold einsperrt, denkt er sich. Oder jemand, der wieder eine Leiche im Grab haben möchte, um seinen Allerwertesten zu retten? Er geht hinaus, aber da ist niemand zu sehen.

Erst mal Frühstückspause machen. Vielleicht sind draußen an den Bäumen schon ein paar Feigen reif? Er hat Pech, sie sind noch grün, aber ein Schmetterling sitzt auf einem Zweig. Offenbar ist er gerade aus seinem Kokon geschlüpft, und jetzt faltet er seine Flügel auf. Schotty beschließt, da zu bleiben, bis er fliegen kann, damit ihn kein Vogel entdeckt und frisst.

Und weil sich das ein bisschen hinzieht, kommt Schotty nicht schell genug auf die Beine, als eine Frau und zwei Männer tuschelnd näher kommen und im Grab verschwinden. Doch dann schwingt sich der Falter noch etwas taumelnd die die Luft und verschwindet hinter den Sträuchern und Schotty geht zum Grab, um sicherzustellen, dass nicht neue Unordnung angerichtet wird.

Beim Hereinkommen hört er eine Frauenstimme sagen: Doch, genau hier hatten sie in hingelegt. Und als gestern die Marias kamen, war er weg und der Eingang war offen. Die Securityleute wussten anscheinend von nichts über den Verbleib des Leichnams.

Bestimmt haben sie das bloß behauptet, unterbricht sie ein Mann, die wollten euch doch nur reinlegen, und weder Pilatus noch die Hohenpriester wollen ein Jesusgrab in der Stadt. Propheten und Messiasse aus dem Volk seien bei der Oberschicht unerwünscht.

Aha, denkt Schotty, jetzt läuft die Verschwörungsdiskussion also genau umgekehrt. Er räuspert sich und das Gespräch verstummt schlagartig. Die drei packen die Tücher zusammen und wollen das Grab verlassen.

Ihr könnt die Sachen da lassen, sagt Schotty , – ich bring sie weg. Die Männer machen eine ablehnende Handbewegung; die Frau fragt: Hast du ihn auch gekannt? Schotty erklärt, er sei eigentlich nicht von hier und verstehe gar nicht, warum alle einen Toten suchen und was die ganze Aufregung um das leere Grab soll. Im Übrigen müsse er hier saubermachen und da könne er es nicht brauchen, dass Leute an ihren Schuhen Dreck herein tragen. Dann sieht er, dass sie die Schuhe alle ausgezogen haben. Er fragt, ob das so eine religiöse Sache sei bei den Juden?

Aber da saß noch dieser Typ auf dem Stein, sagt die Frau, die so in Gedanken war, dass sie seine Frage überhört hat. Sie hält immer noch die blutigen Tücher fest an sich gedrückt. Der habe den Marias gesagt, dass Jesus auferstanden…

Das glaubt dir doch sowieso niemand, sagt der andere Mann. Komm, wir gehen.

Schotty dreht sich um und sieht ihnen nach. Er hört, wie die Frau im Weggehen zu ihren Begleitern sagt: Wir hätten doch mitgehen sollen nach Galiläa. Wenn die anderen nun Jesus dort sehen und wir nicht? Wollt Ihr das wirklich verpassen? Wir könnten sie vielleicht noch einholen. Was gibt es hier für uns denn noch zu tun?

Dann ist es wieder ruhig im Grab. Während der wenigen Minuten, die er noch braucht, kommt es Schotty so vor, als zwitscherten die Vögel draußen noch ausgelassener. Der Duft, der aus dem Garten in die kühle Kellerluft hereinzieht wirkt auch intensiver. Auferstanden, hatte sie gesagt. Wie soll man sich das vorstellen? Man wünscht sich ja wirklich nicht jeden zurück. Aber auf Jesus wäre er jetzt echt mal neugierig.

Schotty betrachtet das geputzte Grab. War da eben wirklich kein Schatten am Eingang vorbeigezogen? Das Grab drückt aus: Wir begraben die Toten, und mit ihnen die gemeinsame Geschichte, die gemeinsamen Träume und Hoffnungen, die der Tod gekappt hat und die wie totes Holz vertrocknen und vermodern. Es bliebt nur die Erinnerung, und selbst die lässt sich nicht festhalten. Der Tod besiegt das Leben. Die Bausteine der Materie werden recycelt, aber die unteilbare Person löst sich auf.

Als jemand, der an Tatorten herumkommt, weiß Schotty aber auch: Manchmal sterben Hoffnungen und Beziehungen schon zu Lebzeiten aller Beteiligten. Beziehungen zwischen Menschen, die einander nur als Feinde erkennen können oder wollen. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit oder Versöhnung. Träume von einem glücklichen und friedlichen Zusammenleben. Der Tod – ob natürlich oder gewaltsam – schreibt diesen Verlust nur noch endgültig fest.

Auferstehung… und wenn tatsächlich Gott dahinter stecken sollte…

… wenn Jesus auferstanden wäre, dann hieße das, die Mächtigen können sich nicht alles herausnehmen, jede Kritik unterdrücken und kommen damit durch. Weder die Angst noch der Tod bringen die Erinnerung an die vielen Menschen zum Verstummen, die wie der letzte Dreck behandelt wurden.

… das würde auch heißen, dass kaputte Beziehungen wiederhergestellt werden können, verletzte Menschenwürde geheilt, dass Hoffnung wieder lebendig wird und man sich waghalsige Träume wieder leisten kann, dass Freude über das Gute und Schöne die tiefere Wahrheit ist gegenüber der Trauer und der Abscheu gegenüber dem Bösen, Brutalen und Hässlichen. Diktatoren und Terroristen sind am Ende nur eine Fußnote der Geschichte, ihre Helden hingegen sind all jene, die es in ihrer verletzlichen Schönheit dem Schmetterling gleichtun.

Schotty packt seine Sachen in die Box und trägt sie zurück durch den Garten. Anfangs fällt ihm gar nicht auf, dass er eine fröhliche Melodie vor sich hin pfeift. Sein Blick streift noch einmal den Kokon, aus dem eben der Schmetterling geschlüpft ist. Er war Zeuge einer Verwandlung. Könnte das ein Symbol sein für unsere Welt: Dass nicht alles beim Alten bleibt, dass nicht alles den Bach hinuntergeht, sondern dass alles verwandelt wird? Und manches davon schon jetzt, anderes erst am Ende?

Sein Puls beschleunigt sich und sein Gang fühlt sich an, als hätte er Sprungfedern unter den Sohlen. Sein Kopf unterlegt die Melodie auf seinen Lippen mit einer vielstimmigen Begleitung. Sie nimmt Anlauf zu einem großen, ausgelassenen und verspielten Crescendo.

Eigentlich ist die Vorstellung ja zu gut, um nicht wahr zu sein, denkt er: Auferstehung … das würde dann ja bedeuten, dass das Schlimmste nicht das Letzte ist.

Dass das Leben letztlich kein Tatort ist, sondern ein Tanzort.

Ist es eigentlich weit nach Galiläa?

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Lernen, wie man lebt

Mein Glaube war recht schlicht und direkt: Es ging nur um Jesus. Ich wollte wissen, wer dieser Jesus wirklich ist. Die Kirche war meine Zuflucht; ich lernte etwas über Jesus und sah an seinem Beispiel, wie man lebt. Sein Beispiel, wie man lebt, eröffnete mir eine neue Freiheit, die ich fühlte, noch bevor ich sie in Worte fassen konnte. Für alle, die sich selbst, so wie ich, als Christen bezeichnen, ist Jesus der Ursprung unseres Menschseins.

aus: Walter Wink, Just Jesus. My Struggle to Become Human

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Die verpasste Chance

Hin und wieder habe ich Auslegungen der Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Markus 10,16-31) gelesen, die es irgendwie schafften, den Text völlig auf den Kopf zu stellen. Verständlich, denn wer möchte schon in einer Gesellschaft, die sich als wohlhabend und im globalen Vergleich durchaus auch als „reich“ versteht, seinen Zuhörern oder Lesern ein hartes Urteil zumuten.

Überhaupt nicht mehr klar wird dabei meistens, warum Jesus den Reichen auffordert, sein Vermögen (sprich: Grundbesitz, anders konnte man größere Beträge damals kaum anlegen) zu verkaufen und das Geld „den Armen“ zu geben und ihm nachzufolgen, wenn doch der Reichtum kein prinzipielles Problem ist, sondern nur die Tatsache, das dieses Individuum (das eher zufällig reich war, auch Arme hängen ja an Hab und Gut) etwas zu sehr an seinem Besitz zu hängen schien.

Richard Horsley, den ich nun schon mehrfach zitiert habe, verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition des mosaischen Bundes, die das Horten von Besitz, das Nehmen von Zinsen, Enteignungen von ererbtem Land verbot und auf die Rückgabe verpfändeten Gutes und den Erlass von Schulden drängte. Jesus bezieht sich, während er durch das ländliche Galiläa zieht, auf diese Traditionen. Bergpredigt und Feldrede können sogar als Erneuerung und Aktualisierung des mosaischen Bundes und Gesetzes gelesen werden (die Regeln der Essener hatten einen ähnlichen Charakter).

Anstößig ist der Reichtum des jungen Mannes nämlich deswegen, weil er sich der Armut seiner Nachbarn verdankt. Reichtum ist insofern betrügerisch, als er auf der Ausbeutung anderer beruht, die als Tagelöhner arbeiten müssen oder von ihrem Land vertrieben werden. Und Jesus ersetzt das „begehren“ in seiner Aufzählung der Gebote durch „betrügen“. Alle Beteuerungen des Reichen, er habe das Gesetz doch gehalten, werden durch die Weigerung widerlegt, den (in Jesu Auslegung des Willens Gottes) unrechtmäßigen Reichtum aufzugeben.

Indem er sich als tadellosen Anhänger des Gesetzes darstellt, betrügt der Mann sich selbst und seine Umgebung. Und er steht mit dieser Behauptung im Gegensatz zu dem, was Jesus die Dorfgemeinschaften lehrt: den gegenseitigen Erlass von Schulden, die Fürsorge für die schwächeren Glieder der Gemeinschaft, Kooperation und Solidarität. Folglich handelt der nächste Abschnitt (10,32-45) von der politischen Macht, die ebenso wie die wirtschaftliche unter dem Vorzeichen der Herrschaft Gottes steht und – damit untrennbar verbunden – der radikalen Gleichheit aller in der erneuerten Bundesgemeinschaft verpflichtet ist. Heimliche Machtansprüche der Zebedaiden (als wäre der Messias ein Herrscher, der Privilegien an Günstlinge vergibt) werden an dieser Stelle ebenso abgewiesen wie naive Vorstellungen, eine solche soziale Revolution könne vom imperialen System geduldet oder unterstützt werden.

Es ging also nicht um bloße „Almosen“ für die Armen – ein mitleidiges Verteilen von Geld, das anderen für eine begrenzte Zeit am Konsum teilnehmen lässt und irgendwann aufgebraucht ist, ohne etwas verändert zu haben. Damit wäre freilich wenig gewonnen. Doch der Mann hätte sich der messianischen Wirtschaftsrevolution anschließen können. Er hätte mit den einfachen Leuten vom Land eine Art Kibbuz gründen können und damit die nachösterliche Gütergemeinschaft der Urgemeinde vorwegnehmen können, in der Menschen, die am Boden waren, zu einem Leben in Würde ermächtigt werden.

Kein Wunder, dass Jesus – über alle persönliche Sympathie hinaus – traurig ist darüber, dass sein Gegenüber diese Einladung ausschlägt, sein Leben und das vieler anderer zu ändern. Und uns muss zu denken geben, dass Jesus hier keinen Spielraum für Verhandlungen und Kompromisse sieht…

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Stress mit bösen Geistern (2)

Ich hatte mich mir Richard Horsleys These befasst, dass sich die Unterdrückung indigener Völker durch technisch und wirtschaftlich überlegene Großreiche oder Kolonialmächte in einer signifikanten Zunahme von Bessenheitsphänomenen äußert. Die eindringenden Dämonen tragen häufig Attribute der Besatzer, der Kampf gegen sie lenkt ab von der demütigenden Aussichtslosigkeit des politischen und militärischen Kampfes, ja sie rettet die betroffenen Gemeinschaften davor, Ihr Leid durch einen Aufstand zu potenzieren.

Horsley zieht eine Parallele zum Neuen Testament. Während Geister und Engel in Israel vor der hellenistischen Zeit kaum eine Rolle spielten und vor allem nicht als eigenständigen Akteure erschienen, ändert sich das in den späten Schichten der hebräischen Bibel wie dem Danielbuch dahingehend, dass zwischen Gott (der damit in größere Ferne rückt) und Welt sich eine Sphäre von Zwischenwesen auftut, in der ein Kampf zwischen Gut und Böse tobt. Spätere jüdische Schriften wie das Henochbuch und die Texte aus Qumran malen das weiter aus. Zeitgeschichtlich fällt das mit der Besatzung durch die hellenistischen Seleukiden (davon berichten die Makkabäerbücher) und später dann durch die Eroberung und brutale Unterwerfung Palästinas durch die Römer zusammen. In Qumran wurde der „geistliche Krieg“ (meine Formulierung) rituell begangen. Deutliche Anspielungen auf Formationen der Besatzerheere trafen dabei auf Elemente der Josua-Tradition und Vorstellungen vom Gotteskrieg.

In den Evangelien finden wir zahlreiche Berichte über Dämonenaustreibungen. Solche Berichte fehlen fast völlig aus der Zeit der Selbständigkeit von Israel und Juda. Die knappen Schilderungen interessieren sich dabei im Vergleich zu vergleichbaren Texten der hellenistischen Literatur überhaupt nicht für die Techniken und Kunstgriffen des Wundertäters, dafür enthalten sie Anspielungen auf den mosaischen Exodus und die Erneuerung Israels.

Unverkennbar ist die politische Dimension (und die Parallele zum kolonialen Afrika) in Markus 5,1-20, in der sich der Dämon als „Legion“ zu erkennen gibt. Der dämonisierte Mann hingegen steht als Symptomträger für die gesamte Bevölkerung. Militärische Sprache prägt auch den weiteren Gang der Erzählung. Die Geister treiben eine Schweineherde in einen wilden Ansturm auf das „Meer“ – der See Genezareth wird zum Symbol für das Mittelmeer, über das die Römer kamen, und das Schilfmeer, in dem die Ägypter untergingen.

Dass es die Leute mit der Angst zu tun bekamen und Jesus baten, die Gegend zu verlassen, hat, so Horsley, weniger mit den tumultartigen Umständen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Maskierung der wahren Unterdrückung, einschließlich der Ursachen und Folgen, nun zusammengebrochen war und ein anderer Modus Vivendi gefunden werden musste als das gelegentliche Niederringen eines Besessenen mit vereinten Kräften. Deutlich wird in alldem: Das Kommen des Gottesreiches in den Exorzismen Jesu (mit dem „Finger Gottes“) signalisiert auch den Anfang vom Ende der römischen Gewaltherrschaft.

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Stress mit bösen Geistern (1)

Wie sind die Exorzismen Jesu zu deuten, von denen die Evangelisten so häufig unter dem Stichwort der „Machttaten“ berichten? Richard Horsley befasst sich im 5. Kapitel von Jesus and the Powers mit dieser für heutige Bibelleser vielleicht fremdartigsten Kategorie von Erzählungen im Neuen Testament und bringt interessante Aspekte in eine weithin festgefahrene Debatte.

Heutige Deutungsversuche scheitern entweder daran, dass sie in typisch neuzeitlicher Manier die Geschichten entweder als bloße Legenden behandeln, oder sie durch die dualistische Brille von Natur und „Übernatürlichem“ als wundersame Beweise für die Gottheit Christi deuten, oder dass das man Phänomen der „Besessenheit“ psychologisiert, nach heutigen Vorstellungen von Subjektivität als rein innerlicher Konflikt behandelt.

Alle drei modernen Deutungen werden den Texten nicht gerecht: Die Menschen damals erlebten es so, dass eine Macht von außen ihnen zu schaffen machte, nicht als einen rein innerlichen Konflikt. Die „Besessenen“ werden durchweg isoliert von ihrem Kontext als neuzeitliche, in sich geschlossene Individuen mit einem Leiden oder, schlimmer noch, psychischen Defekt betrachtet. Politik und Spiritualität erscheinen als ganz verschiedene Sphären, die miteinander nichts zu tun haben.

Horsley verweist auf Stimmen aus der neueren medizinischen Anthropologie, die gezeigt haben, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch Heilung gesellschaftlich konstruiert sind. Im Fall der Schulmedizin deuten wir sie beispielsweise als Fehlfunktionen biologischer und psychologischer Prozesse. Wir wissen freilich längst, dass geschichtliche und soziale, strukturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren auch eine gewichtige Rolle spielen, in der Regel blenden wir sie jedoch aus.

Phänomene von Besessenheit müssen daher umfassender aus dem kulturellen Kontext heraus verstanden werden, in dem sie auftreten. Horsley sucht zu diesem Zweck nach Analogien zum Palästina des ersten Jahrhunderts. Bei einer Reihe afríkanischer Völker gab es beim Eintreffen der ersten Europäer schon die Vorstellung, dass die Kranken und Niedergeschlagenen von den Geistern der Fremden heimgesucht werden, etwa der Araber, später dann auch der Europäer oder der christlichen Mission (in dem Fall hier der eindringende Geist dann „Kijesu“ oder im Sudan „nasarin“). Man besänftige diese fordernden und gierigen Mächte mit Getränken aus Flaschen, Weißbrot und Fleisch aus Konservendosen.

Die Invasion der Europäer sorgte dafür, dass sich die Fälle von Besessenheit massiv häuften und ständig neue Variationen entwickelten  – zum Beispiel konnten die Dämonen den Namen des viktorianischen Imperialisten Lord Cromer tragen. Bei den Zulus scheint diese Zunahme besonders intensiv gewesen zu sein, so dass die Exorzisten Menschen „impften“ durch „Soldaten“ – Geister, die ihre Träger nach Maschinenöl verlangen, sie in fremden Sprachen reden oder Lokomotivengeräusche imitieren ließen. Das sind alles vergleichsweise harmlose Aspekte der Kultur der Invasoren, mit denen man sich gegen die Gewaltherrschaft der neuen Herren schützen wollte. In den 1960er Jahren beschrieb der Psychiater Frantz Fanon Besessenheit und die Angst vor Dämonen als Konsequenz der französischen Besatzung, von der die Einheimischen als Primitive behandelt wurden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Der Impuls zum Widerstand war da, ein Aufbegehren dagegen erschien lebensgefährlich. Horsley folgert:

Als Reaktion auf die Mächte, denen sie ausgeliefert waren, glaubten die Kolonialvölker allmählich, ihre Unterwerfung sei durch keine Aktion ihrerseits zu beheben. Über ihr Schicksal bestimmten höhere, übermenschliche Mächte. Kolonialer Gewalt war nur durch noch größere Gewalt beizukommen, die ihnen nicht zur Verfügung stand. Er war offensichtlich, dass die dominierende fremde Zivilisation ihre traditionelle Lebensweise bedrohte. Entsprechend der Sicht der Kolonialherren, die die Eingeborenen als die Personifizierung des Bösen ansahen, hielten die Eingeborenen die Kolonialherren für böse.

… die Angst der Menschen vor den Dämonen stärkte so ihre Hemmungen, die ein eventuelles aggressives Handeln verhinderte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die bedrohliche Welt böser Geister, nicht auf die Instrumente kolonialer Kontrolle. Die dämonischen Mächte, nicht die konkreten Mächte imperialer Herrschaft waren Ursache ihres Leidens. Dämonenglaube war insofern ein Selbstschutz, als er das unterworfene Volk befähigte, die direkte Konfrontation mit den Kolonialherren zu vermeiden, die zu ihrem Untergang geführt hätte. Aber so war es auch ein wirksames Mittel der sozialen Kontrolle in einer Kolonialsituation und eine mystifizierende Verschleierung dieser Kolonialsituation samt der Mächte, die sie geschaffen hatten. (S. 117)

Die Beschäftigung mit dämonischer Besessenheit, die der vorhandene Geisterglaube ihnen ermöglichte, retteten die Menschen so gesehen davor, die angestaute Aggression gewaltsam gegen die Invasoren und Unterdrücker zu wenden, was aufgrund der militärischen Unterlegenheit einem kollektiven Selbstmord gleichgekommen wäre. Den Unterdrückern freilich nutzte diese Verschiebung des Problems.

Was das mit dem Neuen Testament zu tun hat, werde ich im nächsten Post kurz betrachten.

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Die Angst vor der „orientalischen Despotie“

Für meine Weihnachtspredigt habe ich mich in den vergangenen Tagen durch zahlreiche Lebensbeschreibungen des Kaisers Augustus gefressen, die zu seinem zweitausendsten Todestag dieses Jahr erschienen sind. Besonders interessant fand ich einen kleinen Absatz aus dieser Schilderung von Maria Dettenhofer, die für die Zeit den Aufstieg des Octavius zu Gottkaiser erklärt.

Um seinen Rivalen um die Alleinherrschaft im Reich, M. Antonius, loszuwerden, verbreitet er in Rom das Gerücht, dieser wolle im Falle eines Sieges die Hauptstadt nach Alexandria verlegen. Den Machtkampf im Inneren durch die Beschwörung einer Bedrohung durch Fremde aus dem Osten anzufeuern, das hat ja derzeit leider auch bei uns Hochkonjunktur. Dettenhofer führt aus:

Die „orientalische Despotie“ ist das zentrale Schlagwort in seiner Propaganda. Damit gelingt es ihm, den Krieg gegen Antonius, der für das kommende Jahr erneut als Konsul vorgesehen ist, als Krieg gegen Kleopatra, also einen äußeren Feind, darzustellen

Die Bürger bekamen keinen orientalischen, sondern einen abendländischen Despoten. In Perugia, das dem Antonius nahe stand, ließ er nach seinem Sieg 300 Einwohner zu Ehren seines Adoptivvaters Cäsar auf einem Altar abschlachten.

So aktuell kann die Bibel sein: Das Weihnachtsevangelium sieht die Heilsbringer Jesus und Augustus in einem scharfen Gegensatz. Der christliche Umgang mit Macht und dem Fremden ist dem des Imperiums diametral entgegengesetzt. Gut, dass uns das bevorstehende Fest so unmissverständlich daran erinnert.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass zwischen Braten und Besinnlichkeit, Lebkuchen und Lichterglanz dafür noch genug Raum zur fundamentalen Beunruhigung bleibt.

 

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Mit Gottes Reich ist es wie mit dem Internet…

Jesus spricht in Lukas 17 davon, dass man beim Reich Gottes nicht einfach sagen könne, es sei hier oder da. Dennoch ist es nahe, in Reichweite, am Kommen und im Wachsen begriffen. Für letzteres verwendet Jesus durchweg organische Bilder, insofern ist der Vergleich, den ich jetzt anstelle, etwas heikel. Trotzdem:

Seit etwa 20 Jahren gibt es das Internet. Auf die Frage, wo das Internet denn sei, kann man auch nicht einfach auf irgendetwas zeigen. Bildschirme, Router, Datenleitungen, Satelliten, Netzknotenpunkte, Inhalte, Nutzer, Protokolle, Software – alles gehört irgendwie dazu und nichts ist für sich genommen schon das Internet.

„Das Internet“ ist ständig im Werden. Praktisch jede(r) kann sich anschließen lassen. Zwar nutzt nicht jede(r) das Internet, manche finden es zu teuer, zu gefährlich oder zu kompliziert. Aber das Internet hat im Laufe der relativ kurzen Zeit, seit es „nahe herbeigekommen“ ist, das Leben vieler Menschen und ganzer Gesellschaften verändert – mal etwas mehr, mal etwas weniger.

Natürlich ist das Reich Gottes nicht das Internet (ebenso wenig wie das Internet das Reich des Bösen ist, wie manche argwöhnen). Aber es gibt Analogien, die uns helfen können, besser zu verstehen, wie das mit dem Reich Gottes „funktioniert“. Man lernt zum Beispiel über das Internet Menschen kennen, denen man anders bei begegnet wäre. So ist es mit dem Reich Gottes auch.

Das ließe sich jetzt bestimmt noch in verschiedene Details fortsetzen, und sicher werden manchen nun alle möglichen Aspekte einfallen, in denen der Vergleich mächtig hinkt. Schließlich hat das Internet keineswegs nur gute Seiten. Ich beschränke mich daher auf diese knappen Gedanken.

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