Im Mai und Juni haben wir uns bei ELIA über vier Abende hinweg mit verschiedenen Aspekten christlicher Erlösungslehre beschäftigt. Es war der Versuch, einmal abseits der bekannten und nicht immer unproblematischen Metaphern von Sühne, Opfer oder Lösegeld darüber zu sprechen, was den Tod Jesu am Kreuz herbeigeführt hat und inwiefern sich daraus Rückschlüsse auf seine Bedeutung für die Menschheit im Allgemeinen bzw. seine Nachfolger im Besonderen ziehen lassen.
Die Schwäche der üblichen Sühnetheorien liegt ja darin, dass sie kaum einen Bezug zu Leben und Verkündigung des irdischen Jesus herstellen (außer seiner Sündlosigkeit, aber das ist ja schon eine negative Aussage in dem Sinn, dass sie nichts beschreibt, sondern nur etwas ausschließt) und kaum Folgerungen für ein Leben in der Imitatio Christi zulassen.
Im einzelnen haben wir vier Linien betrachtet, die ich in Ted Jennings’ lesenswertem Buch Transforming Atonement gefunden hatte. Da ging es um Jesu Widerstand gegen Unterdrückung, seine Zuwendung zu den „Sündern“, sein Überschreiten von ethnischen, religiösen und kultischen Grenzen und seine Identifikation mit den Leidenden. In jedem dieser vier Stränge lässt sich nachzeichnen, wie Jesus durch konkrete Dinge, die er sagte und tat, Widerspruch und Ablehnung erlebte, die in Gewalt umschlugen, und wie die ersten Christen sein Anliegen aufnehmen und weiterführten.
Inwiefern ist darin nun von Versöhnung die Rede? Nicht Gott muss irgendwie besänftigt werden, wie Paulus deutlich macht, sondern wir Menschen: „Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben.“ (Römer 5,10)
Jesu Leben, Verkündigung und sein Tod am Kreuz machen deutlich, dass Gott
- nicht auf der Seite der Unterdrücker und Eliten steht (obwohl diese ihre Macht religiös legitimieren wollen), sondern sich mit den Unterdrückten solidarisiert;
- nicht zu denen gehört, die andere selbstgerecht verurteilen, ausschließen und beschämen, sondern gerade auch auf die Verachteten zugeht;
- Krankheit und Schmerzen aller Art weder ungerührt zulässt noch als Strafe oder Erziehungsmaßnahme einsetzt;
- Trennungen zwischen Menschen aufgrund von Herkunft, Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit nicht fordert oder verschärft, sondern überwinden und die Welt befrieden möchte.
Versöhnung entsteht daraus, weil Menschen ihre verständlichen und berechtigten Vorbehalte und Klagen gegen den vermeintlichen Gott der Mächtigen und Gewalttätigen, der Selbstgerechten und Kleinkarierten, der Spalter und Scharfmacher wie auch der schmerzfrei Unversehrten aufgeben können. Zudem steht nun den vermeintlichen Gewinnern und Nutznießern dieser Mechanismen die Möglichkeit offen, ihre Feindschaft gegen den barmherzigen Gott aufzugeben – und damit auch die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den verschiedenen Seiten aller Arten von Konflikten und Auseinandersetzungen.
Und für die vielen „Normalos“, die in der Regel beides zugleich sind (hier eher Opfer, da eher Täter oder Mitläufer) ist der Vorstoß Gottes in die Abgründe dieser Welt und des Menschseins die Chance, sich ihren Verwicklungen vorbehaltlos zu stellen. Ohne diese Ehrlichkeit wird auch die Suche nach Lösungen für alle möglichen Probleme wenig Fortschritt bringen. Mit ihr hat die Verwandlung und Erlösung der Welt schon begonnen.