Jesus und die Eichhörnchen

Bis in den Frühsommer hinein waren die Futtersäulen an unserem Eibisch und der Felsenbirne immer prall gefüllt. Für die Vögel: Meisen, Rotkehlchen und Eichelhäher fanden sich ein; und im ihrem Gefolge  eine wachsende Anzahl Spatzen und Tauben. Meine Frau musste immer öfter nachfüllen. Auch deshalb, weil neben all den gefiederten Gästen die Eichhörnchen aus der Nachbarschaft den Futterplatz entdeckt haben. Akrobatisch schaukeln sie mit den Hinterbeinen an einem Ast und angeln mit den Vorderpfoten die Kerne aus dem kleinen Loch am unteren Rand des Behälters. Sie stopfen sich genüsslich den Mund voll und verschwinden mit ihrer Beute. Ab und zu werfen sie uns einen neugierigen Blick aus ihren Knopfaugen zu oder wackeln mit dem buschigen Schwanz. 

Wir haben die Futterperiode verlängert, weil im Frühjahr alle ihre Jungen versorgen müssen. Vielleicht bleibt es uns auch deshalb so gut im Gedächtnis, als wir lesen, dass Eichhörnchen ein ganz bemerkenswertes Verhalten an den Tag legen: Wenn ein Eichhörnchen unbeaufsichtigte Junge in einem anderen Nest findet, beobachtet es den Ort eine Weile lang. Zeigt sich länger kein Elterntier, holt das Eichhörnchen die Waisen zu sich und zieht sie mit den eigenen Jungen zusammen auf. Das ist eine kleine Besonderheit im Tierreich, die zeigt: Eichhörnchen können mitfühlen mit ihren Artgenossen. Und sie sorgen für die, die sich selbst nicht helfen können. Seither, liebe Hörerinnen und Hörer, habe ich die niedlichen Geschöpfe noch viel mehr ins Herz geschlossen.

Das biblische Wort für dieses Mitgefühl ist „Barmherzigkeit“. Die Not und das Leid anderer geht mir „an die Nieren“. Aber es bleibt nicht bei einer emotionalen Betroffenheit. Ich tue, was ich kann, um dem oder der anderen zu helfen. 

Not, die an die Nieren geht

Zusammen mit Juden und Muslimen beschreiben wir Christen Gott als den Barmherzigen. Da sind wir uns an einem ganz zentralen Punkt alle einig. Wenn wir von dem barmherzigen Gott reden, dann sagen wir: Gott geht es an die Nieren, wenn Menschen in Not geraten. Ob sie das selbst verschuldet haben oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Wenn unsere Kinder schmerzhafte Fehler machen, leiden wir menschlichen Mütter und Väter ja auch unwillkürlich mit. Den wenigsten gelingt es, sich aus dem Schlamassel herauszuhalten. Und genau darin sind wir, zusammen mit den Eichhörnchen, Gott ähnlich.

„Gut so!“ würde wohl Jesus dazu sagen. Es ist gut für die Welt, dass Gott das oft unermessliche Leid seiner Menschenkinder nicht kalt lächelnd geschehen lässt. Gut, dass er sich einmischt und eine Bewegung der Liebe und Barmherzigkeit in der Welt in Gang gesetzt hat. Und selbst wenn die manchmal deprimierend schwach und klein daherkommt angesichts der gigantischen Zerstörung auf unserem Planeten – sie ist auch 2000 Jahre später noch ziemlich lebendig. Sie fängt mit Jesus selbst an, aber sie bleibt da nicht stehen. 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)

Gleich zu Beginn ihres gemeinsamen Weges sagt Jesus das zu seinen Nachfolger:innen. So erzählt es der Evangelist Lukas. 

Es hängt nicht an der Sprache, nicht am Intellekt, nicht an der Fähigkeit, sich der Welt zu bemächtigen. Dass ich Gott ähnlich bin, zeigt sich darin, dass ich andere in ihrem Schmerz und ihrer Verwundbarkeit wahrnehme. Dass ich mich berühren lasse von ihrem Schicksal und mir eingestehe, dass es mich etwas angeht. Dass ich sie nicht als lästige Bittsteller und Sozialfälle abstempele, für die ich nicht zuständig bin. Ich gehe nicht auf Distanz, sondern bleibe an ihrer Seite.

Anders gesagt: Schmerz, Not und Bedürftigkeit trennen uns nicht, sie verbinden uns. Es kann jeder und jedem passieren. Und allen tut es gut, wenn dann jemand da ist und Anteil nimmt. Wie die Sisters of Mercy aus dem gleichnamigen Lied: „Die barmherzigen Schwesternwarten auf dich, wenn du glaubst, dass du nicht mehr weiter kannst. Sie schenken Trost und ein Lied wie dieses hier. 

Barmherzigkeit.

Barmherzigkeit entsteht aus Empathie, aus Mitfühlen und Betroffenheit. Ich lasse zu, dass mir etwas an die Nieren geht. Das ist wichtig. Das Gefühl muss dann aber auch einen praktischen Ausdruck finden – geduldiges Dasein und anerkennendes Zuhören, das tröstende und aufmunternde Wort, ein Taschentuch, ein Stück Schokolade oder noch viel handfestere Formen von Hilfe. Und oft müssen da viele zusammenhelfen. Wenn vor mir auf der Straße jemand stürzt, kann ich der Person auf die Beine helfen. Vielleicht braucht sie aber auch einen Arzt, dann kann ich sie dahin begleiten. Sobald aber ein größeres Unglück passiert, braucht es Organisationen und Netzwerke, die helfen. Viele einzelne, die koordiniert anpacken. Erdbebenhilfe, Seenotrettung, Pflegeheime, Kliniken. Persönliches und gemeinschaftliches Handeln lässt sich kaum voneinander trennen. Und selbstverständlich ist es auch ein Akt der Barmherzigkeit, wenn wir verhindern, dass Menschen und Mitgeschöpfe überhaupt in Not geraten. 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Im Matthäusevangelium liest sich das ein bisschen anders, da steht: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ein Satz, bei dem ich mich immer etwas beklommen gefühlt habe, wenn ich ihn las. Dass Gott vollkommen ist – geschenkt. Aber ich kleiner Mensch mit meinen Macken bin meilenweit entfernt von jeglicher Vollkommenheit. Deshalb klingt diese Erwartung in meinen Ohren überzogen, unerfüllbar – und letztlich auch unbarmherzig.

Doch jetzt sehe ich: Für Jesus sind Barmherzigkeit und Vollkommenheit ein und dasselbe. Vollkommen zu sein, bedeutet einfach nur, barmherzig zu sein. Da geht es gar nicht um irgendeine Art von Perfektion oder Höchstleistung. Sondern darum, dass ich großzügig über die Unvollkommenheit anderer hinwegsehe, ihnen ihre Fehler nicht ständig unter die Nase reibe, und mit unserer mächtig ramponierten Welt behutsam und fürsorglich umgehe. Und dabei – das gehört unbedingt dazu – auch barmherzig mit mir selbst bin. Mich nicht immer weiter reinstresse, wenn ich längst schon spüre, dass ich nicht mehr kann. Ich bin nicht Gott. Ich werde müde und meine Kraft ist endlich. 

In einem Meditationskurs hat unser Kursleiter nach fast jeder Anweisung immer noch gesagt: „So gut’s grad geht.“ Ich habe das Jahre später immer noch im Ohr: „So gut’s grad geht.“ Es hilft mir. Ich darf barmherzig sein – so gut’s grad geht.

Heilsame Tränen

Kürzlich war ich mit einer Gruppe von Aktivist:innen zusammen, die sich für Klimagerechtigkeit engagierten. Eine lebenswerte Welt für alle Menschen, besonders für die Armen bei uns und im globalen Süden, die sich (anders als die Reichen) kein Hitzefrei nehmen oder an andere Orte umziehen können. Leute, die sich berühren lassen von dem millionenfachen Leid, das die Plünderung des Planeten schon mit sich gebracht hat und noch bringt. Sie haben sich eingesetzt und große Opfer gebracht. Zeit und Kraft sind in Aktionen und Projekte geflossen. Der Idealismus war riesig. 

Aber statt dass die Dinge sich zum Guten wenden, haben sich die Krisen verschärft. Vieles, was sie den Regierungen mit immenser Mühe abgerungen haben, wird gerade wieder über den Haufen geworfen. Etliche erzählen an diesem Tag, wie sie an einen Punkt kamen, an dem nichts mehr ging. Und immer wieder fließen Tränen. Ich sitze ganz still da und spüre, wie sich der Schmerz der anderen mit meinem eigenen verbindet. Und wie nah wir einander sind, obwohl wir uns kaum kennen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam – in der Mittagspause am gleichen Tag lese ich ein Gedicht von Rumi, dem großen persischen Weisen. Das tut mir gut: 

Es schießt das Kraut, wo immer Bäche fließen, -
Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen.
Dem Wasserrade gleich, im Tränentau
Klage, bis frisch ergrünt der Seele Au!
Weinende tröste, wenn du Tränen liebst,
Denn Gnade wird dir, wenn du Gnade übst. 

Tränen und Traurigkeit zulassen. Bei mir selbst und bei anderen. Im Weinen erholt sich die Seele. Der Tau der Tränen, sagt Rumi, benetzt sie. Wie eine Wiese in einem schattigen Tal wird sie wieder grün und fruchtbar. Erbarmen sprießt aus dem befeuchteten Boden. Mir hilft diese wunderschöne Beschreibung zu verstehen: Wenn ich keine Angst vor den eigenen Tränen habe, kann ich auch andere trösten. Wer Trost spendet, der wird auch Trost finden, wenn er ihn braucht. Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen, sagt Rumi. Und Jesus: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

Trösten und Barmherzigkeit sind keine Einbahnstraße. Wenn ich sie finden will, muss ich auch bereit sein, sie anderen zu schenken. Diese Wechselseitigkeit spielt bei Jesus eine entscheidende Rolle. 

„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ (Lukas 6,37-38)

Kompromisslose Güte

Du hast die Wahl, scheint Jesus zu sagen: Wenn Du Menschen abstempelst, sie vor anderen schlecht machst und ihnen ihre Fehler und Versäumnisse unablässig unter die Nase reibst, dann musst du damit rechnen, dass es dir früher oder später genauso ergeht. Wenn du dagegen großzügig bist, wenn du das Gute in anderen siehst und auf ihren Unzulänglichkeiten nicht herumreitest, dann werden andere, ja dann wird Gott selbst diesen wohlwollenden Maßstab auch bei dir anlegen. 

Entweder funktioniert die Welt im tiefsten Inneren nach dem Prinzip der Barmherzigkeit. Oder es gewinnt der Stärkere, Skrupellosere und Abgestumpftere. Ich entscheide, auf welche Seite ich mich stelle und welches Prinzip in meiner Welt gilt. Gott hat sich für die Barmherzigkeit  entschieden. Jetzt sind wir dran.

Das klingt alles ziemlich krass und kompromisslos, wie Jesus das sagt. Für Jesus ist klar, dass die Initiative von Gott ausgeht. Aber sie darf da nicht stehenbleiben. Sie ist als Kettenreaktion gedacht, die Kreise zieht. Und ja, natürlich kann ich nicht mit allen Menschen auf einmal weinen und trauern, nicht alle gleichzeitig schützen, unterstützen und verarzten. Aber das darf andererseits nicht dahin führen, dass ich meine, mir kein Mitgefühl mehr leisten zu können.

Ich kann in diese Frage offenbar nicht neutral bleiben. Denn Gleichgültigkeit ist für die Opfer von Unrecht und Gewalt genauso schlimm wie der Mutwille und die Aggression der Ausbeuter und Unterdrücker. Martin Luther King schrieb einmal, dass er das Schweigen der Freunde noch viel schlimmer fand als den Hass der Feinde. Das ist auch heute für viele Helfer:innen und Aktivist:innen so. Immer mehr Menschen verhalten sich immer gleichgültiger. Und die Zahl derer, die sich reinhängen und verantwortlich fühlen, geht zurück. Das tut weh und raubt vielen die Kraft.

Die Insel der Unseligen

Vor drei Wochen war ich, eher zufällig, an einem der Drehorte von „The Banshees of Inisherin“. Den Film, der für 9 Oscars nominiert wurde, spielt im Jahr 1923 auf einer Insel vor der Küste Irlands. Während auf dem „Festland“ gegenüber noch der Bürgerkrieg tobt, sind die Insulaner sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Leid ihrer Landsleute sehen sie lieber aus der Ferne. Auch die beiden unzertrennlichen Freunde Pádraic und Colm. Abend für Abend sitzen sie im Pub, trinken einträchtig ihr Bier und schauen, Irland im Rücken, auf den Ozean hinaus.

Keem Beach, Acaill Island, Co. Mayo, Irland

Aber dann zerbricht die Freundschaft aus heiterem Himmel. Colm zieht sich komplett zurück und Pádraic versteht die Welt nicht mehr. Das Beziehungsdrama eskaliert in immer groteskeren, verstörenderen Szenen. Freunde und Verwandte sind ratlos. Was ist geschehen?

Auf Inisherin spielt sich eine Art Bruderkrieg ab. Pádraic ist so verletzt, dass er Colm keine Ruhe lässt. Und Colm versucht, sich Pádraic mit allen Mitteln vom Leib zu halten. Vom Festland weht unterdessen der Wind den Kanonendonner und Rauch eines anderen Bruderkrieges übers Meer herüber. Mit dieser Gegenüberstellung stellt der Film die Frage: Ist es überhaupt möglich, sich von den Konflikten der Welt abzukoppeln? Oder fressen sich die verdrängten Spannungen schließlich und auf absurdeste Weise in die abgeschirmte Idylle hinein und zersetzen sie von innen heraus? Inseln der Seligen im Ozean der Tränen zu bewohnen, das könnte mit allerhand versteckten Kosten verbunden sein.

Umstrittene Tugend

Vor ein paar Wochen hat Elon Musk mit einer Aussage großes Aufsehen erregt. Da bezeichnet er Empathie, Mitgefühl, als Schwäche, als eine Art Programmierfehler unserer Kultur. Sie drohe, sagt er, selbstmörderisch zu werden für die westliche Zivilisation. Damals war er schon längst dabei, die staatliche Entwicklungs- und Katastrophenhilfe für arme Länder gnadenlos einzustampfen. Er ließ es freilich so klingen, als seien die USA insgesamt am Rande eines lebensbedrohlichen Burnouts, weil sie sich im Einsatz für andere total verausgabt hätten. Sie müssten sich jetzt erst mal um sich selber kümmern. Das stellt die wahren Verhältnisse auf den Kopf. Gerade bei den Superreichen wäre genug Geld da, um das Leben und die Zukunftsaussichten der Armen im eigenen Land wie auch in anderen Weltregionen sofort zu verbessern. Verrückt: Die stärkste Volkswirtschaft der Welt verabschiedet sich aus der Verantwortung für Schwächere und behauptet, das sei Notwehr.

Musk behauptet, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft würden ausgenutzt. Wie viele andere Rechte unterstellt er den Bedürftigen Faulheit, Gier und Unverschämtheit. Sie sind für ihn Parasiten. Und er erweckt den Eindruck, man müsse die Anständigen (sprich: die Wohlhabenden) vor dieser Bedrohung schützen. Barmherzigkeit droht zum Schimpfwort zu werden im Zeitalter der unverblümten Machtpolitik, des Narzissmus und der dominanten Männlichkeit. Als würde ich die eigene Leute verraten, wenn ich anderen gegenüber barmherzig bin.  

Der Opfer-Trick
Das ist natürlich eine astreine Täter-Opfer-Umkehr:

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ (Lukas 6,41-42)

Ich hatte diese Worte von Jesus bisher immer nur als Anweisung verstanden, in persönlichen Konflikten erst mal vor der eigenen Tür kehren. Nicht mit zweierlei Maß zu messen, und nicht an anderen herumzudoktern, ohne mir meiner eigenen blinden Flecke bewusst zu werden. Aber das sind ja alles Peanuts im Vergleich zu der Dreistigkeit, mit der Menschen ihr unbarmherziges Verhalten anderen gegenüber rechtfertigen. Wie sie irgendetwas suchen, das sie an ihnen aussetzen können, irgendeinen Splitter, um jeden Anspruch auf menschenwürdige Behandlung dann abzulehnen. Geflüchtete, so raunen die einen, ließen sich auf unsere Kosten das Gebiss teuer sanieren. Bürgergeldempfänger:innen, behaupten andere, lachen sich ins Fäustchen, während sie gemütlich in der (Achtung: Unwort!) „sozialen Hängematte“ schaukeln. Solche böswilligen Verdrehungen machen mich traurig und wütend. 

Und dann fallen mir die Eichhörnchen wieder ein, und ich denke: Wie gut, dass es dieses positive Beispiel gibt!

Eichhörnchen beherrschen den Perspektivwechsel. Sie versetzen sich in die Lage anderer hinein. Damit sind sie zum Beispiel auch in der Lage, ihre Artgenossen auszutricksen. Manchmal tun sie unter den Augen der anderen so, als würden sie Futter an einem bestimmten Ort verbuddeln. In Wahrheit warten sie, bis sie unbeobachtet sind, und verstecken ihren Vorrat woanders. Aber wenn Barmherzigkeit gegenüber fremdem Jungtieren gefragt ist, gibt es keine Tricksereien, kein Vortäuschen falscher Tatsachen, keine Klage über die Zumutungen, die das mit sich bringt. Dann kümmern sie sich, ohne Wenn und Aber.

Wir müssen uns wohl oder übel darauf einstellen, dass Barmherzigkeit immer öfter nicht nur als naiv, sondern als störend und ärgerlich empfunden wird. Darauf, dass nicht nur das Helfen Kraft kostet, sondern dass wir uns dafür auch noch mühsam rechtfertigen und verteidigen müssen. Die Versuchung, sich neutral zu verhalten und sich in achselzuckende Gleichgültigkeit zu flüchten, nimmt zu. Viel wird davon abhängen, ob junge Menschen echte Barmherzigkeit bei anderen erleben und sich ein Beispiel an ihnen nehmen. Und sich dann auf die Seite von Jesus schlagen. Und die der Eichhörnchen.

Lass dich von der Barmherzigkeit leiten – Let Mercy Lead. Das singt der Musiker Rich Mullins für ein kleines Kind. Und ich wünsche mir das für jedes Kind: Die heilsame Kraft der Barmherzigkeit soll dir begegnen. Sie soll dir richtig Lust darauf machen, dich dieser Bewegung anzuschließen, die Gott in die Welt gebracht hat. Weder durch Enttäuschungen noch Einschüchterungen sollen dich aufhalten. Pack‘ fröhlich überall da an, wo es nötig ist. So gut’s grad geht. Let Mercy Lead – folge der Spur der Barmherzigkeit.

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Ein trotziges Fest, oder: das kleine Horn mit der großen Klappe

Nächste Woche ist Christi Himmelfahrt. Ich bin weiter als sonst mit meiner Vorbereitung, weil wir gestern schon alles für die Evangelische Morgenfeier am 26. Mai (10:30 auf Bayern 1) aufgenommen haben. Ich habe ganz bewusst den Text aus der Perikopenordnung genommen, weil ich den Eindruck habe, der ist aktueller denn je. Hier ist die Extended Version.

Nachts fühlt sich so manches anders an als am Tag. Ich erinnere mich, wie ich als Kind manchmal nachts fiebernd und schweißgebadet aufwachte: Mein dunkles Kinderzimmer schien in diesen Augenblicken immer größer zu werden und ich immer kleiner. In meinen Ohren klang ein Brummen und Dröhnen, das lauter wurde und dann wieder nachließ. Irgendwann schlief ich wieder ein, und wenn ich am Morgen aufwachte, war es hell, das Fieber hatte nachgelassen und ich war wieder normal groß. Aber der nächtliche Schatten war nicht sofort wieder weg. So wie auch heute auf diesen Frühlingstagen für viele Menschen ein Schatten liegt.

Nachts, wenn alles still ist und die Geschäftigkeit des Alltags uns nicht ablenkt, sehen und empfinden wir anders als am Tag. Mitten in der Nacht wirft der jüdische Weise Daniel einen Blick auf die Welt. Albtraumhafte Szenen erscheinen vor seinem Auge. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Daniel gefühlt immer kleiner wurde beim Hinsehen: 

Ich sah vier Winde.
Die kamen aus den vier Himmelsrichtungen und wühlten das große Meer auf.
Aus dem Meer stiegen vier große Tiere herauf, jedes anders als die anderen.
Das erste Tier war einem Löwen ähnlich und hatte Flügel wie ein Adler.
Ich sah, wie ihm seine Flügel ausgerissen wurden.
Es wurde vom Boden aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt.
Ihm wurde menschlicher Verstand gegeben.
Dann sah ich ein zweites Tier.
Dieses Tier ähnelte einem Bären, und es stand an einer Seite aufrecht.
In seinem Maul hatte es drei Rippen, sie waren zwischen seinen Zähnen.
Man sagte zu ihm: »Steh auf, friss viel Fleisch!«
Dann sah ich ein anderes Tier, das einem Panther ähnelte.
Auf seinem Rücken hatte es vier Flügel, die aussahen wie die Flügel eines Vogels.
Es hatte vier Köpfe, und ihm wurde Macht gegeben.
Dann sah ich in der nächtlichen Vision ein viertes Tier.
Es war fürchterlich, schrecklich und sehr mächtig. Seine Zähne waren groß und aus Eisen.
Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen.
(Daniel 7,2-7 Basisbibel)

Sturm wühlt das Meer auf, und nacheinander kriechen aus dem Hexenkessel vier Monster ans Ufer. Schaurige Mutanten sind sie, aus Raubtierteilen zusammengeschustert. Gier, Gewalt und Verwüstung geht von ihnen aus. Und das letzte ist das Schlimmste.

Aber ich stolpere schon vorher beim Lesen: Der Bär hat nämlich ungeheuren Appetit auf Fleisch und wird darin noch kräftig bestärkt. Gab es damals schon eine Ahnung davon, was unser exzessiver Fleischkonsum an Verwüstung anrichten würde – von der Rodung des Regenwalds und der Gewalt gegen indigene Völker über den Methan-Ausstoß der Rinder, die Nitratbelastung der Gewässer, die Qualen der Massentierhaltung und die Geschäftspraktiken von Tönnies und Kollegen?

Wahrscheinlich bin ich auch nicht der einzige, dem zu dem Bären, spätestens aber zu dem Tier mit den eisernen Zähnen, das alles zermalmt und zertrampelt, die Berichte über die Verwüstungen durch Putins Truppen in der Ukraine einfallen. Als dieser Krieg vor einem Vierteljahr begann, hörte ich von vielen Seiten: „Das ist ein Albtraum! Kann ich bitte wieder aufwachen? Am liebsten in den Neunzigern, nach dem Mauerfall, als die Welt fast von selbst besser zu werden schien und Friede und Demokratie überall auf dem Vormarsch waren…!“

Photo by Gaspar Uhas on Unsplash

Manchmal kommt es mir so vor, als käme gerade ein Monster nach dem anderen um die Ecke: Erst sorgt die Finanzkrise weltweit für Armut und leere Sozialkassen, dann bringt die Demokratiekrise vielerorts rechte Autokraten an die Macht. Im mächtigsten Land der Welt führt das zum Sturm aufs Kapitol. Derweil fegt eine Pandemie über den Globus, die viel Not verursacht und den Zusammenhalt weiter schwächt. Und just in dem Moment, als das Schlimmste ausgestanden scheint und wir uns endlich um die Klimakrise kümmern wollten (die sich immer weiter verschärft!), bricht der nächste größenwahnsinnige Despot einen sinnlosen Krieg vom Zaun. Mit unabsehbaren Folgen für die ganze Welt. Aufwachen in einer heilen Vergangenheit? Träum’ weiter.

Die Welt steht in Flammen, singt Sarah McLachlan, und es geht über meine Kräfte. Herzen sind erschöpft in diesen düsteren Zeiten. Das Licht ist erloschen über Lebenden und Toten, aber ich versuche, mich zusammenzureißen. 

Das kleine Horn mit der großen Klappe

Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus ist Daniels monströser Albtraum kein Traum mehr, sondern knallharte Realität. Nachdem die Heere der Babylonier, Meder, Perser und Alexanders des Großen Israel überrollt hatten, entweiht der syrische König Antiochus IV den jüdischen Tempel. In Daniels Traumwelt hört sich das so an:

Ich betrachtete die Hörner. Plötzlich wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleines Horn hervor. Da wurden drei von den ersten Hörnern ausgerissen.
Auf dem Horn waren Augen, die den Augen eines Menschen ähnelten. Es hatte einen Mund, der großspurig redete.
(Daniel 7,8)

Was da gerade vor aller Augen in Jerusalem Wirklichkeit wird, lässt sich nur noch mit grotesken Bildern beschreiben. Das Staatsoberhaupt einer Mittelmacht hält sich für Gott und ist doch nur der Pickel auf dem Kopf des alten Drachen. Aus dieser luftigen Höhe heraus schwingt er sich zu großen Reden auf. Fake News, Lügen, Drohungen, Hassreden, Propaganda. Maßlose Selbstüberschätzung. 

Die Bibel beschreibt all das in diesen grellen Bildern, weil die Wirklichkeit so grotesk ist. Es ist grotesk, dass wir so viel über das höllische Ausmaß der Klimakrise wissen, aber den Hintern nicht hochkriegen. Mich hat das umgetrieben, wie erschreckend treffend der Film „Don’t Look Up“ dieses kollektive Versagen aufs Korn nimmt: Eine beißende Satire über Forscher, die einen Asteroiden entdecken, der auf die Erde zurast. Nach einigem Hin und Her werden sie ins Fernsehen eingeladen, um ihre Entdeckung zu erläutern. Aber statt ernsthaft über die zu erwartenden Folgen dieser Kollision zu reden, bekommen sie zu hören: „Keep it light, fun!“ – „Sagen Sie es leicht und lustig!“ Und als eine von beiden vor laufender Kamera traurig und emotional reagiert, weil niemand im Studio die Gefahr erst nimmt, wird sie als hysterische Spinnerin abgestempelt.

Die Welt brennt, und ich pack’s nicht mehr. Lustig und leicht war gestern. Nicht darüber reden zu können, wie es mir damit geht, wenn der Albtraum Wirklichkeit wird, ohne verhöhnt oder beschimpft zu werden, macht alles noch schlimmer. Hier im Buch Daniel (und in anderen apokalyptischen Texten der Bibel) finde ich die befreiende Erlaubnis: Blick den Monstern ins Auge, die über unsere Welt herfallen. Blick deiner Angst, deiner Wut, deiner Verzweiflung ins Auge. Für wie viele ist das Leben ein täglicher Albtraum. Durch Wegschauen oder Abwiegeln wird nichts besser. Das haben die letzten Monate und Jahre eindrücklich gezeigt. 

Aber woher soll dann Hoffnung kommen in düsteren Zeiten? 

Elons Himmelfahrt

Apropos „Großspurig reden“: Auch die Sonnenkönige des 21. Jahrhunderts, die Superreichen und HighTech-Gurus lassen sich gern als Hoffnungsträger feiern. Allen voran Tesla-Gründer Elon Musk, der sich mit Twitter gerade sein privates Sprachrohr kauft. Dann kann er weiter ungehindert Börsenkurse abstürzen lassen und andere durch Gehässigkeiten einschüchtern. Mit seiner Riesenrakete Starship X will Musk nun den Mars besiedeln. Nicht weil es da so schön wäre – er hat es eilig, von hier wegzukommen. Die Erde ist für ihn ein sinkendes Schiff. Im Februar sagte er:

Wir müssen die Gelegenheit ergreifen, und zwar so schnell wie möglich. Um ehrlich zu sein, Zivilisation fühlt sich gerade ziemlich zerbrechlich an.

„Elons Himmelfahrt“ ist freilich nur den Wenigen vorbehalten, die über das entsprechende Kleingeld oder Beziehungen verfügen. Alle anderen bleiben zurück auf der ausgeplünderten Erde. In Sachen Hoffnung ist dieser Kaiser doch ziemlich nackt.

Mit dem Schlenker ins Satirische, zum kleinen Horn mit der großen Klappe, bahnt sich im Nachtgesicht des Daniel die Wende an. Dieser Galgenhumor schafft Distanz zu dem, was mich bedroht. Und schräge Verfremdungen der Wirklichkeit haben seit je her Hochkonjunktur, wenn Whistleblower und Mahner mundtot gemacht werden. 

Als ob

Der russische Autor Vladimir Sorokin hat so eine Szene für unsere Zeit erfunden. In seiner Erzählung „lila Schwäne“ versammelt sich die russische Elite vor der Höhle eines alten Einsiedlers. Der verschrobene Vater Pankrati ist ihre letzte Hoffnung. Denn über Nacht haben sich alle russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt. Einer der Gesandten, Alex, erklärt das Problem:

„Ihr wisst, wo wir alle leben in welchem Land, welchem Staat. Hier ist alles als ob. Ruhe – als ob, Freiheit – als ob, Gesetze – als ob, Ordnung – als ob, … Kirche – als ob, Kindergarten – als ob, Schule – als ob, Parlament – als ob, Gerichte – als ob … Rente – als ob, Käse – als ob, Frieden – als ob, Krieg – als ob. … Echt ist bei uns nur dieser Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine große Leere.“   (V. Sorokin, Die rote Pyramide, S. 130)

Sorokin hat die „Lila Schwäne“ vor dem Überfall auf die Ukraine geschrieben. Aber sein „als-ob“ trifft den Nagel auf den Kopf: Wir haben Wladimir Putin behandelt, als ob er ein verlässlicher Partner mit etwas seltsamen Ansichten wäre. Er ist es nicht. Wir haben so getan, als ob seine Kriegsverbrechen und seine Morde in Syrien, Luhansk, Berlin und London uns egal sein könnten. Sie waren nicht egal. Politiker, Generäle und Stammtisch-Strategen behandelten die Ukraine und ihre Regierung, als ob sie hoffnungslos unterlegen wäre und dem russischen Ansturm nicht mehr als ein paar Tage standhalten könnte. Sie ist es nicht.

Die Monster gebärden sich, als ob die Welt ihre Beute wäre. Sie ist es nicht. Der König redet, als ob er Gottes Stellvertreter auf Erden wäre. Er ist es nicht. Und Daniels Traum ist noch nicht zu Ende.

Die Zeitenwende

Szenenwechsel. Die Bühne wird umgebaut, vom Schlachtfeld zum Gerichtssaal. Der Vorsitzende lässt die Akten kommen. Die Gräueltaten der Angeklagten sind darin lückenlos dokumentiert. Das Urteil fällt – keine große Überraschung – vernichtend aus.

Ich sah, dass Throne aufgestellt wurden und der Hochbetagte sich setzte.
Seine Kleidung war weiß wie Schnee, und sein Kopfhaar war wie reine Wolle.
Sein Thron bestand aus lodernden Flammen, und dessen Räder waren aus Feuer.
Ein Strom aus Feuer floss von ihm weg.
Tausendmal Tausend dienten ihm, eine unzählbare Menge stand vor ihm.
Es wurde Gericht gehalten, und Bücher wurden geöffnet.
Ich sah hin, weil das Horn so großspurig redete.
Da sah ich, dass das Tier getötet wurde.
Sein Körper wurde vernichtet und dem brennenden Feuer übergeben.
Auch den übrigen Tieren wurde ihre Macht genommen.
Denn die Länge ihres Lebens war auf die Stunde genau festgesetzt.
(Daniel 7,9-12)

Israels Gott erscheint auf der Bühne. Hat J.R.R. Tolkien sich hier seinen Gandalf abgeschaut? Von Altersschwäche jedenfalls keine Spur: Grenzenlose Energie geht von diesem kosmischen Kraftzentrum aus. Als flösse Lava die Abhänge eines Vulkans herab. Alles, was sich dem glühenden Strom in den Weg stellt, wird von dieser Naturgewalt weggerissen und geht unter. 

Das ist das Schicksal aller Gewaltherrscher. Ihre Macht ist endlich, auch wenn sie so tun, als ob sie Götter wären. Ihre Zeit ist begrenzt. Die Saat ihres Zusammenbruchs und Untergangs ist schon ausgestreut. Die bitteren Früchte werden früher oder später reifen. Und sie werden sich daran verschlucken. Es mag länger dauern oder kürzer, aber irgendwann ist Schluss.

Kurz nach Kriegsausbruch sagte der ukrainische Botschafter bei den Vereinten Nationen im UN-Sicherheitsrat zu seinem russischen Kollegen: „Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher. Sie kommen direkt in die Hölle.“ Als ich die Meldung damals las, dachte ich zuerst: Der nimmt den Mund ganz schön voll. Doch als dann die Berichte aus Butscha die Runde machten, fand ich den Gedanken zunehmend tröstlich, dass da jemand ist, der alles Leid sieht, der Grausamkeiten nicht verharmlost, der alles ans Licht bringt und alle Täter zur Rechenschaft zieht. Wer sich also vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht verantworten muss, ist noch lange nicht aus dem Schneider. „Kein Fegefeuer“, das bedeutet, kein Nachverhandeln ist mehr möglich, kein Deal mit dem Staatsanwalt, keine mildernden Umstände.

Wir Protestanten tun uns mit dem Gedanken an ein göttliches Weltgericht ein bisschen schwer. In unserer Genen steckt der Widerspruch gegen jede Form von Kirche, die Menschen einen unbarmherzigen, furchteinflößenden Gott vor Augen malt. Und ihnen wegen Nichtigkeiten mit Höllenqualen droht, um sie gefügig zu machen. 

Am Ende kam ein Gott heraus, der in seiner Harmlosigkeit wunderbar in unsere bürgerliche Kirche passt: Eine Art milder, fürsorglicher Onkel. So lange es halbwegs anständig zugeht, lässt er die Dinge laufen. Wenn es Streit gibt und laut wird, mahnt er alle Beteiligten zur Ruhe. In die Politik mischt er sich selten ein, weil es da ständig Streit gibt. Und weil es da um Geld geht – für das er sich auch nicht recht interessiert, so lange die Reichen gelegentlich spenden für Kinder in Afrika. Wenn aber wirklich böse und schreckliche Dinge geschehen, steht dieser liebe Gott genauso erschüttert und überfordert da wie wir.

Je länger ich dagegen in Daniels Traum lese, desto mehr habe ich den Eindruck: Gott ist wie eine Menschenrechtsanwältin, die mit geballter Faust in der Tasche ihren Schützlingen zuhört. Die sich kaum Schlaf gönnt und zu viel Kaffee trinkt, weil sie unermüdlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, Täter und Auftraggeber identifiziert, Vertuschungen entlarvt. 

Macht und Menschlichkeit

In der nächtlichen Vision sah ich einen, der mit den Wolken des Himmels kam.
Er sah aus wie ein Menschensohn.
Er kam bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden Macht, Ehre und Königsherrschaft gegeben.
Die Menschen aller Völker, aller Nationen und aller Sprachen dienen ihm.
Seine Macht ist eine ewige Macht, sein Königreich wird nicht zugrunde gehen. 
(Daniel 7,13-14)

Einer, der aussieht wie ein Mensch, bekommt die Macht übertragen. Menschliche statt unmenschliche, monströse Machtverhältnisse – daran sind die Völker und Reiche der Welt zu oft gescheitert. Nun kümmert sich Gott selbst darum und präsentiert seinen Kandidaten für das Amt des Friedenskönigs.

Mehr als 200 Jahre nach Daniels Monstern erscheint einem verfolgten Christen auf der Insel Patmos wieder einer, der aussieht, wie ein Menschensohn. Er kommt mit den Wolken, Haare und Gewand sind leuchtend weiß, sein Blick ist voll Feuer und seine Füße glühendes Erz. Der Hochbetagte und der Menschensohn aus Daniels Traum sind nun zu einer Gestalt verschmolzen. Und die sagt:

»Hab keine Angst. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.
Ich war tot, aber sieh doch: Ich lebe für immer und ewig.
Und ich habe die Schlüssel, um das Tor des Todes und des Totenreichs aufzuschließen.«
(Offenbarung 1,18)

Christi Himmelfahrt – das bedeutet nicht, dass sich Jesus auf einen anderen Planeten beamt. Gottes Himmel ist nicht Lichtjahre entfernt, sondern so nahe wie die Luft, die mich umgibt. Er sieht und hört mich – aber eben nicht nur mich, sondern alle Menschen, überall. Und nimmt Anteil an allem, was mich freut und was mich quält.

Himmelfahrt, das ist aber auch der wahre Albtraum aller Menschenschinder: Ein zu Tode Gefolterter holt die anderen Gewaltopfer aus den Gefängnissen und den Gräbern. Und die Täter müssen ohnmächtig zusehen. Alle ihre Verbrechen kommen ans Licht, alle ihre Lügen fliegen auf. Gott wird „die verderben, die die Erde verderben.“ (Offb. 11,18), weiß der Seher Johannes. Die Gewalt gegen die Mitgeschöpfe, die von ihnen ausgeht, fällt auf sie zurück. In Gottes Gericht spielt auch Ökologie eine große Rolle.

Himmelfahrt ist ein trotziger Feiertag. Für alle, die unter Gewalt und Vernachlässigung leiden, lautet die Botschaft: Auch wenn es im Augenblick nicht so aussieht – das Böse wird ein Ende haben, und die es tun (oder davon profitiert haben) werden sich verantworten müssen. Jeder einzelne. Wenn du klagst, dich fürchtest oder weinst – Gott hält dich definitiv nicht für hysterisch.

Und für mich und alle, die gerade das Glück haben, in relativer Sicherheit schlafen zu können, heißt es: Steck den Kopf nicht in den Sand. Geh der Traurigkeit und dem Schrecken nicht aus dem Weg. Mut und Hoffnung gedeihen auch mitten unter den Albträumen unserer Zeit. 

Das englische Wort Awesome bedeutet unter anderem „furchteinflößend“, „fantastisch“, „eindrucksvoll“, „überwältigend“. Für Rich Mullins (oft kopiert, nie erreicht) beschreibt das alles zusammen, wie wir uns Gott vorstellen können.

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