Jesus und die Eichhörnchen

Bis in den Frühsommer hinein waren die Futtersäulen an unserem Eibisch und der Felsenbirne immer prall gefüllt. Für die Vögel: Meisen, Rotkehlchen und Eichelhäher fanden sich ein; und im ihrem Gefolge  eine wachsende Anzahl Spatzen und Tauben. Meine Frau musste immer öfter nachfüllen. Auch deshalb, weil neben all den gefiederten Gästen die Eichhörnchen aus der Nachbarschaft den Futterplatz entdeckt haben. Akrobatisch schaukeln sie mit den Hinterbeinen an einem Ast und angeln mit den Vorderpfoten die Kerne aus dem kleinen Loch am unteren Rand des Behälters. Sie stopfen sich genüsslich den Mund voll und verschwinden mit ihrer Beute. Ab und zu werfen sie uns einen neugierigen Blick aus ihren Knopfaugen zu oder wackeln mit dem buschigen Schwanz. 

Wir haben die Futterperiode verlängert, weil im Frühjahr alle ihre Jungen versorgen müssen. Vielleicht bleibt es uns auch deshalb so gut im Gedächtnis, als wir lesen, dass Eichhörnchen ein ganz bemerkenswertes Verhalten an den Tag legen: Wenn ein Eichhörnchen unbeaufsichtigte Junge in einem anderen Nest findet, beobachtet es den Ort eine Weile lang. Zeigt sich länger kein Elterntier, holt das Eichhörnchen die Waisen zu sich und zieht sie mit den eigenen Jungen zusammen auf. Das ist eine kleine Besonderheit im Tierreich, die zeigt: Eichhörnchen können mitfühlen mit ihren Artgenossen. Und sie sorgen für die, die sich selbst nicht helfen können. Seither, liebe Hörerinnen und Hörer, habe ich die niedlichen Geschöpfe noch viel mehr ins Herz geschlossen.

Das biblische Wort für dieses Mitgefühl ist „Barmherzigkeit“. Die Not und das Leid anderer geht mir „an die Nieren“. Aber es bleibt nicht bei einer emotionalen Betroffenheit. Ich tue, was ich kann, um dem oder der anderen zu helfen. 

Not, die an die Nieren geht

Zusammen mit Juden und Muslimen beschreiben wir Christen Gott als den Barmherzigen. Da sind wir uns an einem ganz zentralen Punkt alle einig. Wenn wir von dem barmherzigen Gott reden, dann sagen wir: Gott geht es an die Nieren, wenn Menschen in Not geraten. Ob sie das selbst verschuldet haben oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Wenn unsere Kinder schmerzhafte Fehler machen, leiden wir menschlichen Mütter und Väter ja auch unwillkürlich mit. Den wenigsten gelingt es, sich aus dem Schlamassel herauszuhalten. Und genau darin sind wir, zusammen mit den Eichhörnchen, Gott ähnlich.

„Gut so!“ würde wohl Jesus dazu sagen. Es ist gut für die Welt, dass Gott das oft unermessliche Leid seiner Menschenkinder nicht kalt lächelnd geschehen lässt. Gut, dass er sich einmischt und eine Bewegung der Liebe und Barmherzigkeit in der Welt in Gang gesetzt hat. Und selbst wenn die manchmal deprimierend schwach und klein daherkommt angesichts der gigantischen Zerstörung auf unserem Planeten – sie ist auch 2000 Jahre später noch ziemlich lebendig. Sie fängt mit Jesus selbst an, aber sie bleibt da nicht stehen. 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)

Gleich zu Beginn ihres gemeinsamen Weges sagt Jesus das zu seinen Nachfolger:innen. So erzählt es der Evangelist Lukas. 

Es hängt nicht an der Sprache, nicht am Intellekt, nicht an der Fähigkeit, sich der Welt zu bemächtigen. Dass ich Gott ähnlich bin, zeigt sich darin, dass ich andere in ihrem Schmerz und ihrer Verwundbarkeit wahrnehme. Dass ich mich berühren lasse von ihrem Schicksal und mir eingestehe, dass es mich etwas angeht. Dass ich sie nicht als lästige Bittsteller und Sozialfälle abstempele, für die ich nicht zuständig bin. Ich gehe nicht auf Distanz, sondern bleibe an ihrer Seite.

Anders gesagt: Schmerz, Not und Bedürftigkeit trennen uns nicht, sie verbinden uns. Es kann jeder und jedem passieren. Und allen tut es gut, wenn dann jemand da ist und Anteil nimmt. Wie die Sisters of Mercy aus dem gleichnamigen Lied: „Die barmherzigen Schwesternwarten auf dich, wenn du glaubst, dass du nicht mehr weiter kannst. Sie schenken Trost und ein Lied wie dieses hier. 

Barmherzigkeit.

Barmherzigkeit entsteht aus Empathie, aus Mitfühlen und Betroffenheit. Ich lasse zu, dass mir etwas an die Nieren geht. Das ist wichtig. Das Gefühl muss dann aber auch einen praktischen Ausdruck finden – geduldiges Dasein und anerkennendes Zuhören, das tröstende und aufmunternde Wort, ein Taschentuch, ein Stück Schokolade oder noch viel handfestere Formen von Hilfe. Und oft müssen da viele zusammenhelfen. Wenn vor mir auf der Straße jemand stürzt, kann ich der Person auf die Beine helfen. Vielleicht braucht sie aber auch einen Arzt, dann kann ich sie dahin begleiten. Sobald aber ein größeres Unglück passiert, braucht es Organisationen und Netzwerke, die helfen. Viele einzelne, die koordiniert anpacken. Erdbebenhilfe, Seenotrettung, Pflegeheime, Kliniken. Persönliches und gemeinschaftliches Handeln lässt sich kaum voneinander trennen. Und selbstverständlich ist es auch ein Akt der Barmherzigkeit, wenn wir verhindern, dass Menschen und Mitgeschöpfe überhaupt in Not geraten. 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Im Matthäusevangelium liest sich das ein bisschen anders, da steht: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ein Satz, bei dem ich mich immer etwas beklommen gefühlt habe, wenn ich ihn las. Dass Gott vollkommen ist – geschenkt. Aber ich kleiner Mensch mit meinen Macken bin meilenweit entfernt von jeglicher Vollkommenheit. Deshalb klingt diese Erwartung in meinen Ohren überzogen, unerfüllbar – und letztlich auch unbarmherzig.

Doch jetzt sehe ich: Für Jesus sind Barmherzigkeit und Vollkommenheit ein und dasselbe. Vollkommen zu sein, bedeutet einfach nur, barmherzig zu sein. Da geht es gar nicht um irgendeine Art von Perfektion oder Höchstleistung. Sondern darum, dass ich großzügig über die Unvollkommenheit anderer hinwegsehe, ihnen ihre Fehler nicht ständig unter die Nase reibe, und mit unserer mächtig ramponierten Welt behutsam und fürsorglich umgehe. Und dabei – das gehört unbedingt dazu – auch barmherzig mit mir selbst bin. Mich nicht immer weiter reinstresse, wenn ich längst schon spüre, dass ich nicht mehr kann. Ich bin nicht Gott. Ich werde müde und meine Kraft ist endlich. 

In einem Meditationskurs hat unser Kursleiter nach fast jeder Anweisung immer noch gesagt: „So gut’s grad geht.“ Ich habe das Jahre später immer noch im Ohr: „So gut’s grad geht.“ Es hilft mir. Ich darf barmherzig sein – so gut’s grad geht.

Heilsame Tränen

Kürzlich war ich mit einer Gruppe von Aktivist:innen zusammen, die sich für Klimagerechtigkeit engagierten. Eine lebenswerte Welt für alle Menschen, besonders für die Armen bei uns und im globalen Süden, die sich (anders als die Reichen) kein Hitzefrei nehmen oder an andere Orte umziehen können. Leute, die sich berühren lassen von dem millionenfachen Leid, das die Plünderung des Planeten schon mit sich gebracht hat und noch bringt. Sie haben sich eingesetzt und große Opfer gebracht. Zeit und Kraft sind in Aktionen und Projekte geflossen. Der Idealismus war riesig. 

Aber statt dass die Dinge sich zum Guten wenden, haben sich die Krisen verschärft. Vieles, was sie den Regierungen mit immenser Mühe abgerungen haben, wird gerade wieder über den Haufen geworfen. Etliche erzählen an diesem Tag, wie sie an einen Punkt kamen, an dem nichts mehr ging. Und immer wieder fließen Tränen. Ich sitze ganz still da und spüre, wie sich der Schmerz der anderen mit meinem eigenen verbindet. Und wie nah wir einander sind, obwohl wir uns kaum kennen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam – in der Mittagspause am gleichen Tag lese ich ein Gedicht von Rumi, dem großen persischen Weisen. Das tut mir gut: 

Es schießt das Kraut, wo immer Bäche fließen, -
Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen.
Dem Wasserrade gleich, im Tränentau
Klage, bis frisch ergrünt der Seele Au!
Weinende tröste, wenn du Tränen liebst,
Denn Gnade wird dir, wenn du Gnade übst. 

Tränen und Traurigkeit zulassen. Bei mir selbst und bei anderen. Im Weinen erholt sich die Seele. Der Tau der Tränen, sagt Rumi, benetzt sie. Wie eine Wiese in einem schattigen Tal wird sie wieder grün und fruchtbar. Erbarmen sprießt aus dem befeuchteten Boden. Mir hilft diese wunderschöne Beschreibung zu verstehen: Wenn ich keine Angst vor den eigenen Tränen habe, kann ich auch andere trösten. Wer Trost spendet, der wird auch Trost finden, wenn er ihn braucht. Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen, sagt Rumi. Und Jesus: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

Trösten und Barmherzigkeit sind keine Einbahnstraße. Wenn ich sie finden will, muss ich auch bereit sein, sie anderen zu schenken. Diese Wechselseitigkeit spielt bei Jesus eine entscheidende Rolle. 

„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ (Lukas 6,37-38)

Kompromisslose Güte

Du hast die Wahl, scheint Jesus zu sagen: Wenn Du Menschen abstempelst, sie vor anderen schlecht machst und ihnen ihre Fehler und Versäumnisse unablässig unter die Nase reibst, dann musst du damit rechnen, dass es dir früher oder später genauso ergeht. Wenn du dagegen großzügig bist, wenn du das Gute in anderen siehst und auf ihren Unzulänglichkeiten nicht herumreitest, dann werden andere, ja dann wird Gott selbst diesen wohlwollenden Maßstab auch bei dir anlegen. 

Entweder funktioniert die Welt im tiefsten Inneren nach dem Prinzip der Barmherzigkeit. Oder es gewinnt der Stärkere, Skrupellosere und Abgestumpftere. Ich entscheide, auf welche Seite ich mich stelle und welches Prinzip in meiner Welt gilt. Gott hat sich für die Barmherzigkeit  entschieden. Jetzt sind wir dran.

Das klingt alles ziemlich krass und kompromisslos, wie Jesus das sagt. Für Jesus ist klar, dass die Initiative von Gott ausgeht. Aber sie darf da nicht stehenbleiben. Sie ist als Kettenreaktion gedacht, die Kreise zieht. Und ja, natürlich kann ich nicht mit allen Menschen auf einmal weinen und trauern, nicht alle gleichzeitig schützen, unterstützen und verarzten. Aber das darf andererseits nicht dahin führen, dass ich meine, mir kein Mitgefühl mehr leisten zu können.

Ich kann in diese Frage offenbar nicht neutral bleiben. Denn Gleichgültigkeit ist für die Opfer von Unrecht und Gewalt genauso schlimm wie der Mutwille und die Aggression der Ausbeuter und Unterdrücker. Martin Luther King schrieb einmal, dass er das Schweigen der Freunde noch viel schlimmer fand als den Hass der Feinde. Das ist auch heute für viele Helfer:innen und Aktivist:innen so. Immer mehr Menschen verhalten sich immer gleichgültiger. Und die Zahl derer, die sich reinhängen und verantwortlich fühlen, geht zurück. Das tut weh und raubt vielen die Kraft.

Die Insel der Unseligen

Vor drei Wochen war ich, eher zufällig, an einem der Drehorte von „The Banshees of Inisherin“. Den Film, der für 9 Oscars nominiert wurde, spielt im Jahr 1923 auf einer Insel vor der Küste Irlands. Während auf dem „Festland“ gegenüber noch der Bürgerkrieg tobt, sind die Insulaner sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Leid ihrer Landsleute sehen sie lieber aus der Ferne. Auch die beiden unzertrennlichen Freunde Pádraic und Colm. Abend für Abend sitzen sie im Pub, trinken einträchtig ihr Bier und schauen, Irland im Rücken, auf den Ozean hinaus.

Keem Beach, Acaill Island, Co. Mayo, Irland

Aber dann zerbricht die Freundschaft aus heiterem Himmel. Colm zieht sich komplett zurück und Pádraic versteht die Welt nicht mehr. Das Beziehungsdrama eskaliert in immer groteskeren, verstörenderen Szenen. Freunde und Verwandte sind ratlos. Was ist geschehen?

Auf Inisherin spielt sich eine Art Bruderkrieg ab. Pádraic ist so verletzt, dass er Colm keine Ruhe lässt. Und Colm versucht, sich Pádraic mit allen Mitteln vom Leib zu halten. Vom Festland weht unterdessen der Wind den Kanonendonner und Rauch eines anderen Bruderkrieges übers Meer herüber. Mit dieser Gegenüberstellung stellt der Film die Frage: Ist es überhaupt möglich, sich von den Konflikten der Welt abzukoppeln? Oder fressen sich die verdrängten Spannungen schließlich und auf absurdeste Weise in die abgeschirmte Idylle hinein und zersetzen sie von innen heraus? Inseln der Seligen im Ozean der Tränen zu bewohnen, das könnte mit allerhand versteckten Kosten verbunden sein.

Umstrittene Tugend

Vor ein paar Wochen hat Elon Musk mit einer Aussage großes Aufsehen erregt. Da bezeichnet er Empathie, Mitgefühl, als Schwäche, als eine Art Programmierfehler unserer Kultur. Sie drohe, sagt er, selbstmörderisch zu werden für die westliche Zivilisation. Damals war er schon längst dabei, die staatliche Entwicklungs- und Katastrophenhilfe für arme Länder gnadenlos einzustampfen. Er ließ es freilich so klingen, als seien die USA insgesamt am Rande eines lebensbedrohlichen Burnouts, weil sie sich im Einsatz für andere total verausgabt hätten. Sie müssten sich jetzt erst mal um sich selber kümmern. Das stellt die wahren Verhältnisse auf den Kopf. Gerade bei den Superreichen wäre genug Geld da, um das Leben und die Zukunftsaussichten der Armen im eigenen Land wie auch in anderen Weltregionen sofort zu verbessern. Verrückt: Die stärkste Volkswirtschaft der Welt verabschiedet sich aus der Verantwortung für Schwächere und behauptet, das sei Notwehr.

Musk behauptet, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft würden ausgenutzt. Wie viele andere Rechte unterstellt er den Bedürftigen Faulheit, Gier und Unverschämtheit. Sie sind für ihn Parasiten. Und er erweckt den Eindruck, man müsse die Anständigen (sprich: die Wohlhabenden) vor dieser Bedrohung schützen. Barmherzigkeit droht zum Schimpfwort zu werden im Zeitalter der unverblümten Machtpolitik, des Narzissmus und der dominanten Männlichkeit. Als würde ich die eigene Leute verraten, wenn ich anderen gegenüber barmherzig bin.  

Der Opfer-Trick
Das ist natürlich eine astreine Täter-Opfer-Umkehr:

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ (Lukas 6,41-42)

Ich hatte diese Worte von Jesus bisher immer nur als Anweisung verstanden, in persönlichen Konflikten erst mal vor der eigenen Tür kehren. Nicht mit zweierlei Maß zu messen, und nicht an anderen herumzudoktern, ohne mir meiner eigenen blinden Flecke bewusst zu werden. Aber das sind ja alles Peanuts im Vergleich zu der Dreistigkeit, mit der Menschen ihr unbarmherziges Verhalten anderen gegenüber rechtfertigen. Wie sie irgendetwas suchen, das sie an ihnen aussetzen können, irgendeinen Splitter, um jeden Anspruch auf menschenwürdige Behandlung dann abzulehnen. Geflüchtete, so raunen die einen, ließen sich auf unsere Kosten das Gebiss teuer sanieren. Bürgergeldempfänger:innen, behaupten andere, lachen sich ins Fäustchen, während sie gemütlich in der (Achtung: Unwort!) „sozialen Hängematte“ schaukeln. Solche böswilligen Verdrehungen machen mich traurig und wütend. 

Und dann fallen mir die Eichhörnchen wieder ein, und ich denke: Wie gut, dass es dieses positive Beispiel gibt!

Eichhörnchen beherrschen den Perspektivwechsel. Sie versetzen sich in die Lage anderer hinein. Damit sind sie zum Beispiel auch in der Lage, ihre Artgenossen auszutricksen. Manchmal tun sie unter den Augen der anderen so, als würden sie Futter an einem bestimmten Ort verbuddeln. In Wahrheit warten sie, bis sie unbeobachtet sind, und verstecken ihren Vorrat woanders. Aber wenn Barmherzigkeit gegenüber fremdem Jungtieren gefragt ist, gibt es keine Tricksereien, kein Vortäuschen falscher Tatsachen, keine Klage über die Zumutungen, die das mit sich bringt. Dann kümmern sie sich, ohne Wenn und Aber.

Wir müssen uns wohl oder übel darauf einstellen, dass Barmherzigkeit immer öfter nicht nur als naiv, sondern als störend und ärgerlich empfunden wird. Darauf, dass nicht nur das Helfen Kraft kostet, sondern dass wir uns dafür auch noch mühsam rechtfertigen und verteidigen müssen. Die Versuchung, sich neutral zu verhalten und sich in achselzuckende Gleichgültigkeit zu flüchten, nimmt zu. Viel wird davon abhängen, ob junge Menschen echte Barmherzigkeit bei anderen erleben und sich ein Beispiel an ihnen nehmen. Und sich dann auf die Seite von Jesus schlagen. Und die der Eichhörnchen.

Lass dich von der Barmherzigkeit leiten – Let Mercy Lead. Das singt der Musiker Rich Mullins für ein kleines Kind. Und ich wünsche mir das für jedes Kind: Die heilsame Kraft der Barmherzigkeit soll dir begegnen. Sie soll dir richtig Lust darauf machen, dich dieser Bewegung anzuschließen, die Gott in die Welt gebracht hat. Weder durch Enttäuschungen noch Einschüchterungen sollen dich aufhalten. Pack‘ fröhlich überall da an, wo es nötig ist. So gut’s grad geht. Let Mercy Lead – folge der Spur der Barmherzigkeit.

Share

Das Beten der Aktivisten (1)

Aktivisten wollen die Welt verändern und deshalb, so zumindest das Klischee, stehen sie mit dem Gebet auf Kriegsfuß. Zu ungewiss die Resultate, zu anstrengend das Innehalten und Loslassen, zu irritierend die Wendung hin zu Gott und damit immer auch ein Stück weg von den Brandherden dieser Welt. Keine Zeit, die Hände zu falten. Das haben wir alle schon mal so oder so ähnlich gehört.

Doch jeder ernsthafte Aktivismus ist aus zwei Richtungen bedroht: Durch Erschöpfung und Resignation einerseits, wenn einem die Probleme über den Kopf wachsen und selbst jede gelungene Aktion nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein ist, andererseits durch Selbstgerechtigkeit, die stur und rücksichtslos macht. In selbstgerechten Köpfen entstehen Feindbilder – dann sind eben Banker und Manager die neuen „Zöllner und Sünder“, die kollektive Entrüstung auf sich ziehen – und aus Feindbildern wächst erst der Zorn und dann womöglich noch der Hass. Wink warnt:

Wir könnten einfach im Bann einer neuen, kollektiven Leidenschaft gefangen sein und dadurch versäumen, die Möglichkeiten zu entdecken, zu denen Gott hier und jetzt drängt. Ohne Schutz durch das Gebet ist unser Aktivismus der Gefahr unterworfen, zu einem selbstgerechten „guten Werk“ zu werden. (152)

Wer also weder seinen Mut noch seine Menschlichkeit im Kampf für Gerechtigkeit und im Einsatz für eine bessere Welt nicht verlieren will, für den ist das Gebet kein Beiwerk von zweifelhaften Nutzen mehr, sagt Walter Wink in Verwandlung der Mächte. Die beliebte Frage, ob Beten eine Flucht vor dem Handeln sein könnte, stellt Wink nicht, seine Perspektive ist nicht die des Rückzugs in einen heilen, frommen Binnenraum. Diese Auflösung der Grenze zwischen Tun und Beten habe ich kürzlich auch bei Madeleine Delbrêl gefunden, die schrieb: „Weil wir die Liebe für eine hinreichende Beschäftigung halten, haben wir uns nicht die Mühe gemacht, unsere Taten nach Beten und Handeln auseinanderzusortieren.“ Zugleich ist das Gebet für beide, Wink und Delbrêl, auch mehr als ein Ort der Selbstreflexion. Es verändert nicht nur den Beter in seiner Innerlichkeit, während die Welt um ihn herum ungerührt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt.

In Engaging The Powers verweist Wink in diesem Zusammenhang auf Rudolf Bultmann, der im Blick auf den „Gebetsglauben“ Jesu festgestellt hatte:

… man kann nicht zweifeln, dass, wenn Jesus zum Bittgebet mahnt, dann die Bitte im eigentlichen Sinn gemeint ist, d.h. im Gebet soll sich nicht die Ergebung in Gottes unabänderlichen Willen vollziehen, sondern das Gebet soll Gott bewegen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde.

Nicht die Selbstbegrenzung des deistischen Gottes der Aufklärungstheologie oder die göttliche „Apatheia“ der antiken Philosophen prägen das Weltverhältnis des Glaubens, vielmehr begegnen wir hier jener Vorstellung von Allmacht und Souveränität, die nicht nach einem neutralen Standpunkt sucht, um von dort aus alpgemeingültige Aussagen zu machen, sondern den unablässigen Klagen der Psalmisten und dem Feilschen der Gerechten Israels einnimmt, die Gott unablässig ins Gewissen reden, ihn bei seiner Ehre und seinen Heilszusagen packen und ihn so ins Weltgeschehen verwickeln.

Um noch einmal Madeleine Delbrêl zu zitieren, die das Verbot der Arbeiterpriester der Mission de France unter Pius XII als schweren Rückschlag beklagte und in dem Zusammenhang fragte: „Aber Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“

Walter Faerber hat das Weltbild, auf das Wink sich bezieht, in diesem Post schön dargestellt und ihm mit dem keltischen Knoten noch ein schönes Symbol hinzugefügt. Wink folgert aus dem unentwirrbaren Ineinander göttlicher und menschlicher Initiative, sichtbarer und unsichtbarer Einwirkungen:

Fürbitte ist der spirituelle Widerstand gegen das, was ist, im Namen dessen, was Gott verheißen hat. Fürbitte imaginiert eine alternative Zukunft, anders als die, welche vom Schicksal durch das Zusammenwirken gegenwärtiger Kräfte bestimmt zu sein scheint. Das Gebet lässt die Luft einer kommenden Zeit in die erstickende Atmosphäre der Gegenwart hereinwehen. (154)

Ich will das im nächsten Post noch etwas näher ausführen. Hier vielleicht noch der Hinweis, der uns bei Con:Fusion 2014 noch ganz wichtig war, dass Wink – durchaus im Einklang mit den biblischen Texten – nie von einer direkten, unvermittelten Intervention Gottes in der Welt spricht. Immer ist ein menschlicher Agent im Spiel – von Adam über Abraham und Mose, die Richter und Propheten bis hin zum Messias, seiner jungen Mutter und schließlich der messianischen Gemeinschaft unter den Augen der Mächte der Welt.

Und so wie Menschen Gott durch ihr Gebet in die Leiden und Kämpfe seiner und ihrer Welt verwickeln, so verwickelt Gott die Menschen durch seinen Geist in die Anliegen seines Reiches, seiner „herrschaftsfreien Ordnung“ (domination-free order), wie Wink so oft sagt, eben jener „alternativen Zukunft“. Wenn wir Gott also, wie Madeleine Delbrêl schrieb, unter Druck setzen, dann deshalb, weil der Funke dieser Sehnsucht uns erfasst hat und sie sich im Umgang mit Gott und den Worten Jesu ständig neu entzündet.

In unserer Gruppe brachte es am Samstag jemand auf den (ziemlich herausfordernden…) Punkt:

Gott hat es so angestellt, dass das Gute nur gewinnt, wenn wir mitmachen.

Share

Der Sinn des Betens

Die Träger der kommenden Veränderungen unterwerfen sich in der Regel einer Lebensweise, die andere vielleicht als Schinderei bezeichnen würden. Sie tun dies nicht, um sich zu kasteien oder sich etwa bei Gott beliebt zu machen. Sie tun einfach das Nötige, um spirituell lebendig zu bleiben, so wie sie essen und trinken, um körperlich lebendig zu bleiben. […]

Menschen, die beten, tun dies nicht, weil sie an bestimmte intellektuelle Thesen über den Wert des Gebets glauben, sondern weil der Kampf, menschlich zu bleiben im Angesicht übermenschlicher Mächte, es verlangt.

Walter Wink, Verwandlung der Mächte, 151.

Share