New York, Rio, Rosenheim und der „aufgeklärte“ Aberglaube

Kürzlich las ich einen Bericht zur Ebola-Problematik in Westafrika. Ein gravierendes Problem stellen die traditionellen Bestattungsriten dar, die vorsehen, dass die Familie den Leichnam gemeinsam wäscht und küsst, und wo das ausbleibt, da sucht der Geist des Verstorbenen die treulosen Hinterbliebenen heim. Angst und Unkenntnis führen dazu, dass sich immer mehr Menschen infizieren

Wir Europäer haben in den letzten Jahrhunderten gelernt, wie man Ansteckung vermeiden kann und an böse Geister glaubt auch kaum noch einer. Aber wir waren und sind zum Teil immer noch der Meinung, dass man unbegrenzt Klimagase in die Luft pusten kann, ohne dass etwas passiert. Und wenn sich etwas abzeichnet, dann postulieren wir andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die unsere Lebensgewohnheiten unangetastet lassen. Die Folge: Der westantarktische Eisschild ist nach Ansicht vieler Experten dabei, unwiderruflich zu verschwinden (danke an Daniel Wildraut für den Lesetipp!). Der Meeresspiegel würde allein dadurch um etwa drei Meter ansteigen, egal, was jetzt noch geschieht. Sollte auch die Ostantaktis und Grönland abtauen, steigen die Ozeane bis zu 60 m und darüber an (Berlin liegt in Teilen nur 35, Köln 53 Meter über NN, und die Hamburger leben dann auf Hausbooten zwischen den Kirchturmspitzen ihrer versunkenen Stadt).

Ob Afrika oder Antarktis – das Phänomen ist dasselbe. Ein bestimmtes Weltbild mit seinen Lebens- und Denkgewohnheiten verhindert, dass wir Gefahren rechtzeitig erkennen und unsere Lebensweise umstellen. Der nicht mehr zu leugnende Klimawandel wird als eine Art Schicksal oder Fluch verstanden, den wir nicht verschuldet haben, ergo auch nicht ändern können. Es sind zwar keine Geister im Spiel, der westliche Aberglaube gibt sich ganz wissenschaftlich und aufgeklärt. In Wirklichkeit aber ist er selbstgefällig, rigide und denkfaul.

Passend dazu heißt es im Dossier „Denken“ des Philosophie-Magazins unter Verweis auf Hannah Arendt:

Das Gegenteil des Denkens ist nach Arendt nicht die Dummheit, sondern die Gedankenlosigkeit als der sorglose Unwille, eigene Überzeugungen kreativ in Frage zu stellen.

Und etwas später lese ich dort:

Wer sich in der Kunst, Unrecht zu haben, üben will, benötigt nicht zuletzt ein Selbstbewusstsein, das stark genug ist, fundamentale Erschütterungen des eigenen Glaubenssystems nicht als Verlust, sondern als möglichen Gewinn zu empfinden.

Vielleicht sollten wir alle im nächsten Jahrzehnt noch einmal möglichst viele Küstenstädte und -regionen aufsuchen, wenn diese demnächst von der Landkarte verschwinden. New York und Rio zum Beispiel. Unsere Enkel können dann, um bei den Sportfreunden Stiller zu bleiben, nur noch nach Rosenheim. Und dort werden dann auch deutlich mehr Menschen leben, denn viele Küstenregionen sind extrem dicht besiedelt.

Und auf irgendeiner schwimmenden Insel setzen wir Hannah Arendt und den so oft und übel geschmähten Klimaforschern ein Denkmal.

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