Die Lizenz zum Dissens

Der Gnadauer Gemeinschaftsverband hat kürzlich eine Erklärung zum konfliktbeladenen Thema des Umgangs mit Homosexualität veröffentlicht. Es ist, wie könnte es anders sein, ein Kompromisstext herausgekommen, der allen Seiten (außer vielleicht den Unentschlossenen) einiges zumutet.

Die einen dürften enttäuscht sein von der halbherzigen Ankündigung, man wolle mit Homosexuellen in den Gemeinschaften liebevoller umgehen, ihnen aber keine Leitungsaufgaben anvertrauen, weil dies der Schriftauslegung der Mehrheit nicht entspreche. Kann ich gut verstehen, denn der Vorbehalt trifft dann ja doch wieder alle, ob sie nun ein Amt anstreben oder nicht.

Die anderen dürften besorgt sein, dass von Verbandsseite (erstmals, wenn ich das richtig sehe) offen und öffentlich gesagt wird, dass es eine abweichende Minderheitsmeinung gibt und dass diese Minderheit nicht sofort als geistlich und theologisch defizitär qualifiziert wird, wie es das Netzwerk Bibel und Bekenntnis fordert. Vielmehr räumt die Mehrheit ein, auch sie könnte sich womöglich irren.

Es ist der typische Kompromiss, der die Einheit und damit den Fortbestand der Organisation ermöglicht, indem er eine Spannung ungelöst stehen lässt. Es ist sicher mehr Kirchenpolitik als Theologie. Theologisch kann keines der beiden Lager das andere von seiner Auffassung überzeugen, und die Gründe dafür dürften im Glaubens- und Schriftverständnis liegen. Die einen hängen stärker am biblizistischen (und gelegentlich auch antiliberalen) Erbe des Neupietismus, die anderen wünschen sich mehr Offenheit für eine Welt, die sich verändert hat und immer weiter verändert, und die sich wundert, worüber die Frommen da streiten.

Der entscheidende Punkt dieser Erklärung ist für mich der: Sie öffnet die Tür, um über ein Tabuthema offen und öffentlich zu reden. Und zwar kontrovers. Man darf jetzt sagen, dass man anderer Meinung ist, ohne dass einem die Treue zum christlichen Glauben insgesamt und zur konkreten Gemeinschaft im Besonderen deswegen abgesprochen wird. Diese Möglichkeit sollten möglichst viele Gemeinschaften nutzen. Vielleicht kann der Verband sogar Hilfestellungen dazu erarbeiten oder Moderator*innen bereitstellen. Dann wird sich vielleicht herausstellen, dass die Psychologie eine ebenso große Rolle spielt wie die Theologie, dass neben der Hermeneutik auch Ängste und Aversionen ein Thema sind, über das geredet werden muss.

Und wer weiß, vielleicht könnten sich ja gerade im ehrlichen Gespräch über diese unscharfen und subjektiven Aspekte so viel Verständnis und verbindende Gemeinsamkeiten offenbaren, dass man die einheitliche theologische Position als verbindende Klammer, die den Zusammenhalt sichert (denn das ist ja vielfach die Funktion), gar nicht mehr braucht?

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Konfir(motiv)ation

Falls sich mal jemand fragt, ob und warum es sich lohnen könnte, einen guten Konfirmandenunterricht zu machen und dabei auch jene theologischen Komplexitäten nicht auszusparen, die einem selbst etwas abverlangen, dann könnte dieses Zitat von C.G. Jung über den Unterricht bei seinem Vater ein Ansporn sein, es besser zu machen – man weiß ja nie, was aus einem gelanweilten Teenager noch wird:

Der Katechismus langweilte mich unaussprechlich. Ich blätterte einmal in dem kleinen Büchlein, um irgend etwas Interessantes zu finden und mein Blick fiel auf den Paragrafen über die Dreieinigkeit. Das interessierte mich und ich erwartete mit Ungeduld, bis der Unterricht zu jenem Abschnitt vorrückte. Als nun die ersehnte Stunde kam, sagte mein Vater: „Diesen Abschnitt wollen wir überschlagen, ich begreife selber nichts davon“. Damit war meine letzte Hoffnung begraben. Ich bewunderte zwar die Ehrlichkeit meines Vaters, was mir aber über die Tatsache nicht hinweg half, dass von da an alles religiöse Gerede mich tödlich langweilte.

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Die Gemeinschaft der Gleichgesinnten

Am Freitag habe ich einen Blogpost bei emergentDE geschrieben und dort unter Bezug auf Zygmunt Baumans Analysen ein paar Punkte zusammengetragen, warum das Thema „Postmoderne“ nach wie vor hochaktuell ist, und warum sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern dürfte. Wer Lust hat, weiterzulesen, klickt einfach hier (und findet dort noch viele weitere lesenswerte Beiträge!).

Als ich dann in Baumans „Flüchtige Moderne“ weiter blätterte, sprangen mir ein paar Aussagen ins Auge, die sowohl die aktuelle Flüchtlingsdiskussion als auch die Querelen in der evangelikalen Bewegung in ein interessantes Licht rücken, nämlich die Frage von Gemeinschaft und Zugehörigkeit in der Postmoderne. Patriotismus/Nationalismus und Fundamentalismus sind verwandte Denkstrukturen (und nicht selten gehen sie Hand in Hand, etwa wenn sie vor einer „Islamisierung“ warnen).

Den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus bezeichnet Bauman als die Differenz zwischen Wirklichkeit und Ideal, die im Wesentlichen eine rhetorische bleibt. Beginnen wir beim ersteren:

Der »Nationalismus« hingegen ähnelt eher der calvinistischen Erlösungsidee oder der augustinischen Vorstellung des freien Willens: Man vertraut wenig auf Entscheidungen – entweder bist du »einer von uns« oder nicht, und wie auch immer, du kannst nichts dagegen tun. Im Epos des Nationalismus ist »Zugehörigkeit« kein Projekt oder Ziel, sondern Schicksal. Dieses tritt entweder in der heute etwas aus der Mode gekommenen rassistischen Variante als biologische Vererbung auf oder in der derzeit beliebteren Version des »kulturellen Erbes« – aber in beiden Fällen sind die Dinge schon seit ewigen Zeiten, wie sie sind, und dem einzelnen bleibt lediglich die Wahl zwischen der vollen Hingabe an sein Schicksal oder der Rolle des gegen sein Schicksal rebellierenden Verräters. (S. 206f.)

In seinem Herkunftsland Polen dürfte Bauman mit solchen Thesen kaum noch ins Fernsehen kommen. Im Blick auf den Patriotismus beschreibt Bauman den Unterschied so:

Der Nationalismus verrammelt die Tür, montiert die Klinke ab und schaltet die Klingel aus, und nur die, die drinnen sind, haben das Recht, sich dort aufzuhalten. Der Patriotismus ist da zumindest an der Oberfläche toleranter, zuvorkommender und gastfreundlicher – wer um Einlass bittet, darf sich darum bemühen. Dennoch läuft es im Endeffekt oft auf dasselbe Ergebnis hinaus. Weder das nationalistische noch das patriotische Glaubensbekenntnis sehen die Möglichkeit, dass Menschen zusammengehören und dennoch an ihren Unterschieden festhalten. (S. 208)

Für beide Richtungen – und das lässt sich eben auch auf Theologie und Kirche anwenden – ist die Einheit „nicht das Ergebnis, sondern das Apriori eines gemeinsamen Lebens“. Auch für den theologischen Fundamentalisten ist die Einheit in der wortwörtlich zu verstehenden Bibel vorgegeben, und sie duldet weder Variationen noch Adaptionen (die es gleichwohl gibt, man nimmt sie aber nicht zur Kenntnis). Also gibt es nur die Alternative von Verrat oder Verteidigung dieser Einheit. Bauman beobachtet:

Der Impuls, sich aus den risikobeladenen Komplexitäten in die geschützte Sphäre der Einheitlichkeit zurückzuziehen, ist allgegenwärtig. […]

Die Zukunft gehört Inselgruppen, die sich entlang den Kommunkationsachsen aufreihen. […]

Der Traum von der »Gemeinschaft der Gleichartigen« ist im Grunde eine Projektion des amour de soi.

Island with a house by Tambako the Jaguar, on Flickr
Island with a house“ (CC BY-ND 2.0) by  Tambako the Jaguar

 

In der spätmodernen Welt, in der man gar nicht anders kann, als eine Wahl zu treffen und so über die eigene Identität zu entscheiden, dreht sich alles um Identitätsmanagement. Und das besteht oft in einer Vermeidungsstrategie, meint Bauman,

… als Versuch, Fragen aus dem Weg zu gehen, für die es keine guten Antworten gibt, ob etwa das eigene verängstigte Selbst überhaupt liebenswert und ob es als Vorbild für die Umgestaltung der Umgebung und als Maßstab für die eigene Identität geeignet sei. In einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten werden solche unangenehmen Fragen – hoffentlich – vermieden, und damit steht die über das Reinigungsritual erworbene Sicherheit nie wirklich auf dem Prüfstand.

Ob das nun die „Lügenpresse“ und die „Altparteien“ oder die angeblichen EKD-Irrlehren sind, der Mechanismus ist derselbe. Die aktuelle Kontroverse (eher Blockbildung als Spaltung) innerhalb der Evangelischen Allianz wurde ja dadurch ausgelöst, dass die schon recht fortgeschrittene innere Pluralisierung des Evangelikalismus öffentlich wurde und damit dieselbe Grundsituation der Unentscheidbarkeit eintrat, die in den Großkirchen und der Gesamtgesellschaft immer wieder Unbehagen auslöst.

Bauman geht es freilich mehr um das politische, weniger um das kirchenpolitische Ringen um Identität, Gemeinschaft und Einheit.  Man fühlt sich unwillkürlich an das »Wir sind das Volk« der Dresdner Pegida-Demos erinnert, wenn er schreibt:

es liegt nahe, dass sich die Schwächeren zusammentun, um ihre individuelle Ohnmacht durch Masse zu kompensieren. Je nach Größe des Abgrunds, der sich zwischen dem »Individuum de iure« und den Möglichkeiten, zum »Individuum de facto« zu werden, auftut, ergeben sich unter den Bedingungen einer hochgradig fluiden Umwelt verschiedene Überlebensstrategien. Das »Wir« ist heutzutage – so Richard Sennett – »Ausdruck und Akt des Selbstschutzes. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft hat etwas Defensives […]. Immer und überall wird dieses ‚Wir‘ als Verteidigung gegen Verwirrung und Vertreibung genutzt.«

Und die Moral von der Geschicht‘? Natürlich beruht jede Form des Miteinanders auf Gemeinsamkeiten, und natürlich gibt es manchmal Gegensätze, sie ein Miteinander unmöglich machen. Kooperationen, Netzwerke und Zusammenschlüsse sind vor allem dann ein Gewinn, wenn sie nicht diesen defensiven Charakter annehmen und der Unterdrückung von Differenz dienen und einen Nutzen über sich hinaus schaffen. Und ob das gelingt, das müssen die anderen entscheiden, nicht die Gruppe selbst.

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Keiner von uns

Zum Ausklang des Blog-Jahres noch ein eher meditativer Nachklang von Weihnachten. Danke Euch/Ihnen allen fürs Mitlesen und -denken, kommt gut ins neue Jahr!

„Gott wird einer von uns“
Vielfach bejahte man dieser Tage
was Joan Osbourne fragend sang:
What if God was one of us?

Was die Frage aufwirft:
Wer sind eigentlich „wir“? Und
wäre, nach unserer Definiton von „wir“, Er
wirklich einer von uns?

Ist er nicht eher
einer von „denen da“:
Entwurzelt, fremd,
nicht von unserer Welt?

Blieb er nicht immer ein Fremd-Körper
Wie ein Stein zwischen den Zehen,
wie ein Sandkorn im Auge,
wie ein Krümel in der Luftröhre?

Wir verschlucken uns an seinen Worten.
Sein Anblick brennt in den Augen.
Seine Berührung scheuert uns wund.
Sein Atem reizt die Schleimhaut.

Als einer von denen kommt er zu uns.
Das Wort ward Fleisch, sagt der Theopoet.
Keiner von uns, solange wir nur
denen das Schlimmste nachsagen.

Der eine, als einer
von denen, das dehnt
unser enges Herz
das nur Platz hat für Gleiches.

Wenn unser „Wir“
Raum hat für mehr
erst dann ist er wirklich
einer von uns.

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Füttern für den Frieden

Als ich vorgestern nach Hause kam, lag ein totes Rotkehlchen vor dem Fahrradschuppen. Einer der zahlreichen Stubentiger aus unserer Straße dürfte der Übeltäter gewesen sein. Wenn er wenigstens eine der vielen Elstern erwischt hätte, aber an die trauen sich Hauskatzen nicht heran.

Ich war wütend.

Anders als Hunde, deren Jagdtrieb von ihren Haltern weitgehend kontrolliert wird und die auch gar kein Interesse an Singvögeln zeigen, nehmen die Besitzer der lieben Kätzchen es achselzuckend hin, dass die Vogelpopulation um uns her mächtig leidet. Sinnlos, sich bei ihnen zu beklagen, sie müssten ihre Lieblinge schon einsperren (oder ihnen Glocken umhängen).

Gestern hatte ich dann eine Idee, wie sich das Problem eleganter lösen lässt: Katzen lassen sich ja nach meiner Beobachtung von so ziemlich jedem füttern. Wenn ich die Verdächtigen möglichst reichlich mit Nahrung versorge, dann sind sie irgendwann nicht mehr ohne weiteres in der Lage, Meisen und Rotkehlchen zu morden. Nicht, weil sie nicht mehr hungrig wären – Hunger ist nicht ihr Antrieb zum Töten, die Beute wird ja nicht verspeist – sondern weil sie zu langsam und zu schwer sind.

Die Devise heißt also: Füttern für den Frieden.

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Falsches Entgegenkommen

Heute morgen war in allen Zeitungen von einem Eklat bei „Hart aber Fair“ zu lesen. Die Sendung hält sich hartnäckig in den Schlagzeilen, der Quote dürfte das freilich nicht schaden.

Diesmal bestand der Skandal darin, dass unser bayerischer Innenminister das Wort „Neger“ verwendet hat. Er tat dies, wie er später durchaus glaubwürdig versicherte, obwohl der Begriff nicht zu seinem normalen Vokabular gehört; vielmehr hatte ein Anrufer (mutmaßlich aus Bayern) ihn verwendet und Herrmann wollte dem eine andere Wendung geben, indem er auf Roberto Blanco und den FC Bayern verwies.

Vielleicht ist das aber eben auch symptomatisch dafür, wie rechte Ressentiments von konservativen Politikern (und leider auch einzelnen Kirchenmenschen) aufgegriffen werden. Man versucht, die Sprache der Stammtischbrüder (so wird das ja immer eingeordnet: rustikal, aber nicht zwingend bösartig) aufzunehmen, ohne sich ihrer Stoßrichtung in vollem Umfang anzuschließen.

Das Problem ist, dass es sich hier durch die Bank um Negativstereotype handelt (Wirtschaftsflüchtlinge, Asylanten, Asylflut, Pleitegriechen, Sozialschmarotzer und was da noch alles herumschwirrt – bei der christlichen Rechten etwa die verhassten „Gutmenschen“). Und diese Negativstereotype macht man, indem am sie um Wählergunst werbend aufnimmt, statt sie energisch zurückweist, immer ein bisschen salonfähiger. Entsprechend dreist treten die Rechten inzwischen überall da auf, wo sie auf ein solches „Verständnis“ hoffen dürfen.

Vielleicht setzt sich diese Erkenntnis nach den Ereignissen der letzten Wochen nun auch bei den Konservativen durch. Das Verständnis für schäbige Angstmacher als Grundhaltung ist das eigentliche Problem. Ob es nur taktischer Natur ist, etwa um die Bildung rechter Parteien zu verhindern bzw. deren Wählerpotenzial demokratisch und rechtsstaatlich „einzubinden“, spielt nämlich irgendwann keine Rolle mehr.

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Muss man sich Liebe leisten können?

Die Redaktion des Duden postete – aus aktuellem Anlass – am Freitag auf Facebook die Definition einer christlichen Kardinaltugend:

In Anbetracht der aktuellen Nachrichtenlage möchten wir heute ein Wort erklären, das wir für sehr wichtig halten:
Nächstenliebe, die: innere Einstellung, aus der heraus jmd. bereit ist, seinen Mitmenschen zu helfen, Opfer für sie zu bringen.
Synonyme: Anteilnahme, Erbarmen, Mitgefühl, Teilnahme.

Die Frage, über die in endlosen Variationen gestritten wird, ist derzeit freilich die, ob Nächstenliebe eine romantische und/oder religiöse, in jedem Fall aber sentimentale Illusion ist, der nachzugeben unklug und teuer wäre. In diesem Fall würde Nächstenliebe als Kriterium für „Realpolitik“ (wie es dann so gern heißt) ausscheiden. Die plakativen und zum Teil bewusst anstößigen Aktionen des Zentrum für Politische Schönheit etwa klagen die bedingungslose Pflicht zur Hilfe gegenüber Flüchtlingen ein, und das in einer Weise, die an die Kompromisslosigkeit der biblischen Propheten erinnert: Wo es um Menschenleben geht, ist alles Rechnen, was wir uns denn leisten können, fehl am Platz.

Just diese Diskussion behandelt David Bentley Hart in Experience of God. Er beschreibt, wie Nächstenliebe in einem materialistisch-mechanistischen Weltbild als verwirrender „Altruismus“ erscheint. Denn eigentlich lässt diese Vorstellung von der Welt kaum eine Vorstellung von Moral zu, außer in der Form von Verhaltensweisen, die sich im Zuge der natürlichen Selektion als vorteilhaft erwiesen haben. Man kann vom Nützlichen reden, aber das ist nicht dasselbe wie das Gute.

Simone Martini [Public domain], via Wikimedia Commons
Die Frage ist für Hart nicht, ob Altruismus sich hin und wieder auch als nützlich erweisen könnte (das tut er zweifellos), sondern wie er mit rein materialistischen Prämissen zu erklären und zu beschreiben ist. Für Richard Dawkins gehört nur der Egoismus zur Grundstruktur der Evolution, und auch für den Wissenschaftsjournalisten Robert Wright liegt aller Nächstenliebe die Erwartung zugrunde, selbst von den Folgen des eigenen Tuns zu profitieren. Hart nimmt sich ein paar Seiten Zeit, Wrights Argumentation zu zerpflücken und ihre logischen Brüche darzulegen. Freilich könne man immer postulieren, dass jedes Verhalten sich entweder als Eigeninteresse erklären lässt oder als eine zufällige Begleiterscheinung desselben. Wie aber lässt sich dann das menschliche Bedürfnis erklären, nicht selbstsüchtig zu wirken?

Das hieße auf aktuelle Diskussionen wie etwa Flüchtlinge und Schuldenerlass angewandt: Tyrannisieren idealistische „Gutmenschen“ sich und andere mit einem illusionären moralischen Anspruch , der weder nützlich noch einlösbar ist? Ist ihre scheinbare Selbstlosigkeit, wie oft unterstellt wird, nicht nur eine besonders raffiniert verbrämte Selbstsucht (und wäre diese Selbstsucht daher verwerflich)? Hart geht dem Gedanken nach, Altruismus beruhe auf eines Selbsttäuschung:

… wenn wir überzeugt sein müssen, dass wir aus uneigennützigem Antrieb handeln, dann muss es in uns eine echte Veranlagung zum Altruismus geben, der wir um unseres inneren Gleichgewichts willen nachkommen müssen. Wir können uns nur dann vortäuschen müssen, dass unser Handeln selbstlos ist, wenn wir in unseren moralischen Intentionen tatsächlich selbstlos sind; die Illusion der Selbstlosigkeit würde daher die Wirklichkeit der Selbstlosigkeit beweisen, zumindest als ein Ideal, das uns leitet. (S. 269)

Wenn es um Nächstenliebe und Menschenrechte geht, geht es nicht mehr nur um das Nützliche und Pragmatische, sondern es geht um Ideale und etwas Absolutes. Nun muss man gewiss kein religiöser Mensch sein, um sich dafür einzusetzen. Aber Hart erinnert daran, dass man über die Ökonomie der Nützlichkeit hinausgeht und und -denkt, wenn man die Wirklichkeit des Guten und Unbedingten voraussetzt:

Jede wahrhaft ethische Handlung ist ein Akt hin zum Transzendenten, ein Willensentschluss, zu dem man sub specie aeternitatis gelangt, und eine Aufgabe, die man um einer Sache willen übernimmt, die jenseits dessen liegt, was wir als Natur kennen. Ethik hat, wie das Wissen auch, notwendigerweise eine transzendentale Logik. Jede Tat, die um ihrer moralischen Güte willen getan wird, ist ein Glaubensakt.

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Unsichtbare Unfreiheit

Unter der treffenden Überschrift „Selbstzufriedene Unmündigkeit“ betrachtet Felix Stephan für Zeit Online zwei Autorinnen aus China und fragt, warum dort eigentlich kaum jemand gegen die autoritäre Regierung aufbegehrt. Wirklich bemerkenswert daran sind nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten mit dem Westen:

Von Chinesen höre man oft, dass ein Einzelner nichts ändern könne und dass das hier eben das Leben sei, mit dem man irgendwie zurechtkommen müsse. Dem Einzelnen bleibe nur, das Beste aus der eigenen Hilflosigkeit zu machen, also zu reisen und in der Galerie Lafayette Haussmann einkaufen zu gehen. Die persönlichen Freiheiten überwiegen die politischen.

Stephan zitiert Guo Xiaolu, die in Zürich lebt, mit den Worten

Früher hatten Kunst und Literatur einen sehr viel größeren Einfluss auf die Politik, aber heute leben wir in einer globalen Konsumkultur, in der kommerzielle Werte die Richtung der Politik vorgeben.“

Die Fragestellung des Artikels ähnelt der von Walter Wink in seiner Powers-Trilogie:

Wie ist es möglich, dass buchstäblich Milliarden von Menschen es zulassen, hereingelegt und abgezockt zu werden von kleinen elitären Zirkeln, die sich auf Armeen stützen, die bei weitem nicht ausreichen um die Weltbevölkerung zu unterdrücken? Das ist wohl das größte politische Mysterium aller Zeiten: das regelmäßige Versagen der Massen, ihre zahlenmäßige Überlegenheit auszunutzen, um ihre Unterdrücker abzuschütteln.

Wink hat in seiner theologischen Deutung der paulinischen Rede von „Mächten und Gewalten“ herausgearbeitet, wie wirtschaftliche Strukturen und gesellschaftliche Institutionen Menschen dazu bewegen, sich aus freien Stücken in den Dienst derselben zu stellen, und warum den Betroffenen Widerstand oder ein Bemühen um Veränderung aussichts- und sinnlos erscheint.

Diese Beobachtungen decken sich an entscheidenden Stellen mit dem, was Byung-Chul Han in Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken schreibt. Es ist immer weniger äußerer Zwang nötig, um Menschen zur Konformität zu bewegen. Im Unterschied zu Deleuze und Foucault, die nach den Funktionsweisen der Disziplinargesellschaft fragten, sieht er in der Leistungs- und Konsumgesellschaft neoliberaler Prägung viel subtilere Formen der Macht und Ausbeutung am Werk.

Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, dass das Individuum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fallen hier in eins.

Das neue globale Machtgefüge beeinflusst auch die Einstellung zu politischen Fragen. Wahlbeteiligungen sinken stetig. Die Mentalität wandelt sich in eben jene Richtung auf die selbstgefällige Unmündigkeit:

Die Freiheit des Bürgers weicht der Passivität des Konsumenten. Der Wähler als Konsument hat heute kein wirkliches Interesse an der Politik, an der aktiven Gestaltung der Gemeinschaft.  Er ist weder gewillt noch fähig zum gemeinsamen, politischen Handeln. Er reagiert nur passiv auf die Politik, indem er nörgelt, sich beschwert, genauso wie der Konsument gegenüber den Waren oder Dienstleistungen, die ihm nicht gefallen.

Es ist in dieser Situation schon gar nicht mehr klar, gegen wen man in dieser Situation eigentlich aufbegehren sollte. Big Data weiß vermutlich mehr über uns als staatliche Geheimdienste, und diese informationen haben die Unternehmen von uns allen freiwillig ausgehändigt (bzw. ausgehandygt) bekommen. Damit ist auch die theologische Aufgabe für eine Art „Befreiungstheologie des Konsumzeitalters“ formuliert: Die klassischen Strategien der großen Bürgerrechtsbegewegungen des 20. Jahrhunderts setzen voraus, dass Unterdrücker klar benannt werden können und man mit dem Finger auf die Zwänge zeigen kann. Das wird immer schwieriger.

Wink hat ganz zu Recht stets betont, dass diese Mächte eine sichtbare und eine unsichtbare Seite haben. Er hat herausgearbeitet, dass uns Paulus keine metaphysische Theorie an die Hand gibt, sondern eine Sprache schenkt, in der bestimmte Erfahrungen überhaupt thematisiert und gedeutet werden können. In der fluiden Moderne aber tritt das Sichtbare und Materielle zunehmend zurück (wir konsumieren Emotionen, die nur noch locker an bestimmte Produkte geknüpft sind, von denen viele digital und damit weitgehend immateriell sind). Wenn uns für diese neuen unsichtbaren Unfreiheiten der Blick und die Worte fehlen, droht eben jene Unmündigkeit, von der Stephan schreibt.

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Die Sprache der Wahrheit

Der großartige Frederick Buechner schreibt in Telling the Truth über die Poesie der hebräischen Propheten:

Sie fassten die Dinge in Worte, bis ihnen die Zähne klapperten, aber unter ihren Worten, oder tief in ihren Worten klingt etwas hindurch, das neu ist, weil es zeitlos ist, die Stille klingt durch, die Wahrheit, die nicht in Worte zu fassen ist, die Mysterium ist, die ist, wie die Dinge nun einmal sind, und der Grund, warum man sie heraushört, scheint der zu sein, dass die Sprache die die Propheten verwenden, im Wesentlichen die Sprache der Poesie ist, die, mehr als Polemik oder Philosophie, Logik oder Theologie, die Sprache der Wahrheit ist.

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Bessere dich!

Die neoliberale Ideologie der Selbstoptimierung entwickelt religiöse, ja fanatische Züge. Sie stellt eine neue Form der Subjektivierung dar. Die endlose Arbeit am Ich ähnelt der protestantischen Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, die ihrerseits eine Subjektivierungs- und Herrschaftstechnik darstellt. Statt nach Sünden wird nun nach negativen Gedanken gefahndet. Das Ich ringt erneut mit sich selbst als einem Feind. Die evangelikalen Prediger agieren heute wie Manager und Motivationstrainer und predigen das neue Evangelium der grenzenlosen Leistung und Optimierung.

gefunden in: Byung-Chul Han, Psychopolitik

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Kein‘ feste Burg?

 

Madeleine Delbrêl hat sich zu ihrer Zeit vehement eingesetzt für eine Kirche, die mit der Zeit geht, statt stur auf dem vermeintlich Bewährten zu beharren. Nur im Mitgehen bleibt der Glaube lebendig und Kirche ihrem Auftrag treu. Ein halbes Jahrundert später sind ihre Worte immer noch aktuell:

Es lässt sich leicht feststellen, dass … Milieus entstanden sind, in denen Christen nur unter sich leben. In diesen – regionalen, familiären, beruflichen und freundschaftlichen – Milieus hat das christliche Leben im Lauf der Zeit eine bestimmte Gestalt angenommen und eine bestimmte Mentalität ausgeprägt.

Meist waren dies lebendige Ausdrucksformen des Glaubens. Doch Schritt für Schritt sind daraus veraltete, überholte, um nicht zu sagen: anachronistische Formen geworden. Ein lange Zeit nur unter Christen gelebtes christliches Leben hat zwei Merkmale: Manches liegt darin brach, anderes wird überbetont.

Es ist tatsächlich so, dass in einem Milieu, in dem man als Christen nur unter sich lebt, keine Gelegenheit gibt,  gewisse Glaubenswahrheiten in die Praxis umzusetzen. Und wenn man sie nicht praktiziert, ist man sich ihrer weniger bewusst: man streitet sie nicht ab, aber man vergisst sie.

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Außenseiter

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Über die Jahrhunderte scheinen sich Flüchtlingsschicksale nicht grundlegend geändert zu haben. Diese Zeilen aus dem fünften Jahrhundert v.Chr. sprechen für sich.

Jokaste:  So frag ich dich, was mir zunächst am Herzen liegt: Verbannung aus der Heimat – sag‘, welch großes Leid!

Polyneikes: Das größte; seine Wirklichkeit erreicht kein Wort.

Jokaste: Wie ist das Leben? Was wird dem Verbannten schwer?

Polyneikes: Das Schrecklichste, dass ihm die freie Rede fehlt.

Jokaste: Des Sklaven Los ist, nicht zu sagen, was er denkt.

Polyneikes: Er muss ertragen die Dummheit der Gewaltigen.

Jokaste: Auch das ist traurig, mit den Dummen dumm zu sein.

Aus: Euripides, Die Phönizierinnen

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Scharfschützen auf Glaubensdächern

Rob Bells neues Buch Mit Dir. Für Dich. Vor Dir. liegt genau da – vor mir. Ich habe schon auf den ersten Seiten, im typischen Rob-Bell-Stil geschrieben, so manche Weisheit gefunden. Zum Beispiel diese fast schon prophetische Aussage:

In puncto Glauben und Nichtglauben sind wir umgeben von Freunden, Nachbarn, Angehörigen, Intellektuellen und religiösen Systemen mit tief verwurzelten Interessen an den althergebrachten Konzepten, die genauso unbeweglich sind wie manche Traditionen und Auffassungen. Sie verhalten sich mitunter wie geistliche Wächter, Scharfschützen auf den Glaubensdächern. Und sind nicht im Entferntesten daran interessiert, strittige Fragen anzugehen.

Wie um zu beweisen, dass Rob Bell (um bei der Schützenmetapher zu bleiben) mit dieser Einschätzung ins Schwarze trifft, erschien dieser Verriss nun vor einigen Tagen. Der Autor, anscheinend unfähig, sich auf andere Sprachspiele als das eigene einzulassen, ist darüber empört, dass im Zusammenhang mit Gott der Begriff „Energie“ fällt. Also stempelt er Bell kurzerhand zum Esoteriker ab, mit dem Christen sich nicht abgeben sollten. Argumente, die über simple Stichwortassoziationen hinausgehen, sind dazu gar nicht nötig. Und da wir schon bei Stichworten sind: Es war immerhin Paulus, der im Zusammenhang mit Gott immer wieder von energeia sprach.

Nun lese ich „meinen“ Bell fröhlich weiter und bin gespannt, mit welchen Bildern und Begriffen er jenen Menschen eine Brücke baut, die nach einem Zugang zu Gott suchen, an dem ihnen die Wächter der reinen Lehre nicht auflauern.

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Bibelbrillen

Zwei Gespräche aus der vergangenen Woche haben mich beschäftigt. In beiden ging es darum, wie und unter welchen Prämissen wir die Bibel lesen. Die ersten Christen waren eine Minderheit, die immer wieder bedroht und verfolgt wurde. In Europa wurde die Kirche mächtig, regierte gut 1.000 Jahre mit und hat heute immer noch beträchtlichen Einfluss (trotz aller Klagen über Mitgliederschwund, „Werteverfall“ oder dass wir „kein christliches Land mehr“ sind).

Folglich wurde die Bibel eher staatstragend aufgefasst und ausgelegt. Diese Wirkungsgeschichte hat sich tief in die westliche Mentalität eingeprägt, auch bei Menschen, die sich gar nicht als Christen verstehen. Folglich ist aus Jesus ein apolitischer Messias geworden, der keine alternative Gesellschaft bringt, sondern dessen Reich etwas komplett jenseitiges ist, und dessen Einlassbedingungen der rechte Glaube und ein moralisches Leben sind. Und das Kreuz stellt staatliche Ordnungen samt der Gewalt, die zu ihrem Erhalt angeblich „nötig“ ist, keineswegs in Frage, sondern es legitimiert sie noch: Auf Feldzeichen, Flaggen und Orden, um nur mal die sichtbaren Formen zu nennen, oder auf Kruzifixen im Klassenzimmer. Für Paulus hingegen war noch völlig klar, dass die Mächtigen der Welt für den Tod Jesu verantwortlich waren und dass Gott ihr Urteil gegen sie selbst wendet. In der alten Kirche durften Christen daher nicht in der Armee sein, weil das die Handlangertruppe war, die Jesus getötet hatte und immer noch Menschen tötete, um das System zu erhalten.

THE EMPIRE WANTS YOU 2! by leg0fenris, on Flickr
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Eine junge Frau merkte bei anderer Gelegenheit an, es gebe in der Bibel doch viele Aufforderungen, sich den jeweils Regierenden unterzuordnen. Freilich wird vom Handeln der „Großen“ berichtet, oft aber ohne jede positive Wertung. Ich würde das daher auch nicht als Zustimmung betrachten. Mir fielen aber aus dem AT auf Anhieb deutlich mehr Passagen ein, in denen die Mächtigen kritisiert und getadelt werden. Und im Neuen Testament steht jede Form von „Autorität“ in der Kirche (und überhaupt) ohnehin unter dem Vorbehalt aus Markus 10,45, dass sie herrschaftsfrei zu sein hat, dass Titel wie „Vater“ und „Rabbi“ tabu sind (Matthäus 23) und dass äußere Unterschiede keine Rangordnung begründen (Galater 3,28). Stellt man das in Rechnung, dann relativiert sich das Wenige, was etwa Paulus noch über „Unterordnung“ schreibt, schon recht signifikant.

Wenn das so ist, meinte meine Gesprächspartnerin am Ende unseres Gesprächs, dann wirft das ja einige Fragen auf im Blick auf heutige Gemeindearbeit.

Womit sie zweifellos Recht hat.

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Biblische Mystik

Mystik wurde oft missverstanden als der Versuch, der einfachen Welt der Phänomene zu entfliehen in die reinere Existenz eines jenseitigen Himmels. Das ist keine Mystik, sondern Gnosis. Biblische Mystik ist der Versuch, aus „dieser Welt“ heraus zu einer alternativen Wirklichkeit zu gelangen, die die alte Ordnung durchdringt. Ihr Ziel ist, ein Denken abzustreifen, das behauptet, Gier sei gut, Selbstsucht sei normal und Töten sei notwendig. Mystik im biblischen Sinne ist keine Flucht, als die sie von vielen karikiert wurde, sondern ein Kampf für Ethik und gesellschaftlichen Wandel.

Walter Wink

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