Einigkeit und Geist und Freiheit

„Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Kor 3,17)

Das Grundgesetz wird in diesen Tagen 75 Jahre. Und in den vielen Kommentaren dazu ist die Sorge darüber zu spüren, dass die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die es so lange garantiert hat, derzeit so bedroht ist wie noch nie.

Sie ist bedroht von außen durch Diktaturen und ihre Handlanger, die immer zahlreicher werden und immer skrupelloser agieren. Aber das wäre zu verkraften, wäre sie nicht auch bedroht von innen: Durch Korruption, Ungleichheit, Lügen und zersetzenden Streit – um nur mal das Offensichtliche zu nennen.

Im öffentlichen Leben sieht es momentan aus wie in einer kaputten Beziehung: Alles Gute scheint nicht der Rede wert zu sein, und an allem Schlechten sind die anderen schuld. Mich erinnert das daran: Der Paartherapeut John Gottman hat schon vor Jahren vier Haltungen entdeckt, die fast unweigerlich zum Zusammenbruch von Beziehungen führen – er nennt sie die „Apokalyptischen Reiter“, Vorboten des Untergangs: Es sind Kritik, Verachtung, Verteidigung und Mauern.

Wo immer Menschen so etwas erleben, fühlen sie sich fremd und schutzlos. Und im Augenblick begegnet uns das überall: In sozialen Medien ganz besonders, in politischen Parolen, in persönlichen Gesprächen über die Zukunft unserer Welt.

Abgenutzte Ideale

Die Freiheit westlicher Demokratien lebt von Idealen: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ oder „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so die klassischen Formulierungen für ein Ziel, das wir freilich nie zu hundert Prozent erreichen. Ideale (die romantische Liebe wäre auch eines) nutzen sich im Alltag ab und verlieren ihre Strahlkraft. Dann fehlt auch die Energie, ihnen mit der nötigen Beharrlichkeit nachzueifern.

Vor ein paar Monaten sollte ich eine Kollegin im Gymnasium für eine Stunde vertreten. Die Schüler:innen wollten – natürlich – keinen Unterricht mit mir machen, sondern spielen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass sie am Ende der Stunde ein Spiel machen durften. Als aber der Zeitpunkt kam, rannten, redeten und riefen alle planlos durcheinander. Sie waren nicht in der Lage, aus der geforderten Freiheit etwas zu machen. Die Impulskontrolle der Gruppe funktionierte nicht. Zu wenige waren bereit, zuzuhören und sich ein bisschen zurückzunehmen um des gemeinsamen Spiels willen.

Wenn die Ideale nicht mehr ziehen, dann kommen Appelle und Drohungen ins Spiel. Im Politischen Spektrum wird auf der Linken eher appelliert und auf der Rechten lieber gedroht. Aber das Problem bleibt: Ohne Einsicht und ohne – ich sag das mal fromm: „Herzensveränderung“ – bleibt beides äußerlich. Wenn es dann nicht mehr gelingt. den Druck hoch zu halten, eskaliert alles wieder wie in der Chaos-Klasse.

Nochmal von vorn, aber anders

Paulus hat aus der Geschichte seines Volkes gelernt: Israel und Gott sind gescheitert wie viele Paare. Die Schuld daran war nicht gleichmäßig verteilt: Es braucht nur eine Seite, der die Beziehung nicht genug wert ist. Weder die Appelle der Propheten noch die Drohung mit Strafe haben es verhindert. Aber dann, als alles in Trümmern liegt, entscheidet Gott sich für einen Neuansatz:

Ideale (das Land, wo Milch und Honig fließt) sind offenbar zu wenig. Auch an sich richtige Regeln (Gottes Gebote) nageln uns eher auf Defizite fest. Es muss eine Kraftquelle dazukommen, die sich nicht erschöpft. Sie muss unabhängig sein von der äußeren Großwetterlage, und das heißt, sie muss in den Menschen selbst liegen, ohne sich in deren Endlichkeit zu erschöpfen. Dann ist auch die verlorengegangene Spontaneität wieder da.

Aber dafür ist das Eingeständnis nötig: Wir brauchen Gottes Hilfe. Es muss eine Art Herztransplantation stattfinden, denn das ist es, was Gottes Geist im Menschen bewirken kann. Wenn Gottes Sehnducht nach einer besseren Welt nichts Fremdes, Äußerliches mehr ist, wen der Wunsch danach aus mir selbst kommt und auch nicht nachlässt, dann geht es nicht mehr darum, meinen Kopf gegen Gott und andere Menschen durchzusetzen.

Nicht mehr um Spaltung, sondern um Verbundenheit geht es ab da. Und das ermöglicht Veränderung: Hochachtung – Gott und den/die Nächste:n höher zu achten als mich selbst – und Liebe, die sich selbst zurücknehmen kann, die auch mit ganz unterschiedlichen Meinungen und Bedürfnissen umzugehen lernt.

Und klar – all das fühlt sich in der Praxis manchmal trotzdem an, als würde es mich umbringen! Aber genau deshalb glauben wir ja auch an die Auferstehung von den Toten.

So war das auch beim ersten Pfingsten: Ein paar Wochen nach dem Mord an ihrem Anführer stehen die Jünger:innen wieder auf den Straßen der Stadt: Frei von Furcht und Groll, fröhlich und klar, einfach nicht totzukriegen.

Wo der Geist ist, da bricht Freiheit aus und durchlöchert die Unfreiheit in der Welt. Eine andere Welt wird möglich. Wir haben – nein, wir bekommen – alles, was wir dazu brauchen.

(Foto von Alex Alvarez auf Unsplash

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Einfach Mann sein – geht das?

„Wann ist ein Mann ein Mann?“ fragt – mal wieder – ein Beitrag in der Arte-Mediathek im Anschluss an Herbert Grönemeyer. Und deutet damit im Titel an, dass es nicht ausreichen könnte, auf ein Y-Chromosom zu verweisen und/oder auf testosteronbasierte Geschlechtsmerkmale. Dass also zu Genetik und Anatomie noch etwas kommen muss, um ein „echter“ Mann zu sein. Und das das, was dazukommt, sogar irgendwie das Eigentliche sein könnte.

Lässt man sich auf den Gedanken ein, dann geht es ab da nicht einfach um Eigenschaften, nicht um ein bestimmtes So-Sein, sondern um das Tun: Männlichkeit wird ganz überwiegend performativ aufgefasst, und zwar absurderweise ganz besonders nachdrücklich von denen, die sich strikt gegen jede gendertheoretische Relativierung physischer Gegebenheiten verwahren.

Am sogenannten „Vatertag“ werden gewisse Stereotypen performativer Männlichkeit besonders zelebriert. Andere haben mit Bier und Bollerwagen weniger zu tun, aber auch da gilt: Man ist nur (oder vor allem) dann ein „richtiger“ Mann, wenn man dieses oder jenes tut.

Es gibt eine ganze Männlichkeitsindustrie, die Männern „hilft“, sich als Männer zu fühlen, indem Sie irgendwelche Männerdinge tun. Irgendeinem Ideal nacheifern, das mal so und mal so aussieht. Grölen, Grillen, irgendwas verbrennen oder irgendwas jagen … ach, und vor allem scheinen viele „richtige“ Männer sich dadurch auszuzeichnen, dass sie anderen nur allzu bereitwillig unter die Nase reiben, dass sie gar keine echten Männer sind, solange sie das nicht tun, was Männer angeblich ausmacht. Oder üble Ressentiments gegen Frauen entwickeln und verbreiten, die vermeintliche Männerdinge tun und deshalb als Bedrohung der Männlichkeit insgesamt wahrgenommen werden.

Wäre also am Ende einfach dies das Wesen des Männlichen, dass man immer einem (reichlich wandelbaren) Ideal hinterherhechelt? Ein Ideal, das deshalb auch unerreichbar sein muss, weil man in dem Augenblick, wo man es erreichte, nichts mehr tun könnte und sich die zugrundeliegende Performativität damit selbst erledigt hätte?

Oder ist dieser Anspruch, das eigene Mannsein immer und immer wieder zu verwirklichen oder zu unter Beweis zu stellen, eher eine als Problemanzeige zu sehen und eine Beeinträchtigung – wenn schon nicht der Männlichkeit, dann auf jeden Fall der Lebensqualität?

Was würde wohl passieren, wenn Männer die Nonchalance an den Tag legen könnten, einfach die zu sein, die sie gerade sind: Jetzt, in diesem Augenblick, ohne nach rechts und links zu schielen und auf Bestätigung von irgendwem zu warten, wie männlich ich dabei erscheine? Gottes Erlaubnis dazu habe ich. Aber gestehe ich mir es auch selbst zu?

(Foto von Vince Fleming auf Unsplash)

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