Weiter provisorisch

Seit zwei Jahren bin ich nun Pfarrer in Zerzabelshof (kurz: „Zabo“). Es ist reichlich Wasser den Goldbach hinabgeflossen. Das erste Jahr war vom Ankommen geprägt, ich habe den Stadtteil, die Menschen und die jüngere Geschichte der Kirchengemeinde kennengelernt. Und weil wir kurzfristig überbesetzt waren, war mein Aufgabenbereich auch nicht klar definiert. Das war nicht weiter schwierig, weil meine Frage von Anfang an war: Was braucht diese Gemeinde und wo ist Gott gerade am Werk?

Vor einem Jahr dann normalisierte sich die Personalsituation. Ein interner Stellenwechsel brachte alle Aufgaben der zweiten Pfarrstelle mit sich und verschob den Schwerpunkt Richtung Konfirmanden- und Jugendarbeit und der Verantwortung für das Kinder- und Jugendhaus „Arche“. Zum Glück hatte ich den Großteil der erforderlichen Fortbildungen für Frischlingspfarrer schon im ersten Jahr hinter mich gebracht. Ich brauchte dann einige Wochen, um mich zu orientieren, dann liefen die Dinge ganz erfreulich an.

Mitten in diesen Neubeginn fiel Corona – und machte manches umständlich und anderes unmöglich. Viele Wochen herrschte in dem Haus, in dem sich von Miniclubs über Mittagsbetreuung und Konfiguppen bis zum Repair-Café alle möglichen Gruppen treffen, ungewohnte Stille, die lediglich von einem Wespenvolk unterbrochen wurde. Im Garten war es so ruhig, dass zwei Feldhasen ihn zur Spielwiese erkoren.

Apropos Spielwiese(n): Nach einigen Experimenten mit dem Internetauftritt der Kirchengemeinde, im Dekanat und mit den Rundfunkbeauftragten, als regionaler Jugendpfarrer und neuerdings auch Umweltbeauftragter bin ich zu Beginn des dritten Jahres nun dabei, all die losen Enden wieder aufzunehmen. Nächste Woche geht es mit den verschobenen Konfirmationen los. Wenn wir dann den Kollegen Uwe Bartels im Herbst verabschieden, wird es, bis im Frühjahr oder Sommer ein(e) Nachfolger(in) kommt, wenig Langeweile geben. Aber in einer Gemeinde mit so vielen motivierten und engagierten Leuten lässt sich das bewältigen.

Ich werde nun immer öfter gefragt, ob ich schon weiß, wie es nächstes Jahr weitergeht. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht und es wird sich auch erst zum Ende des Probedienstes entscheiden. Also denke ich nicht darüber nach, sondern konzentriere mich auf die Arbeit der nächsten Monate und versuche, gut hinzusehen: Was wird gebraucht, wo regt sich geistlich etwas, wie halten wir Schritt mit den vielen Veränderungen?

Nächsten Sommer ziehen wir dann Bilanz. Bis dahin wohnen wir weiter in Erlangen, und ich reihe mich weiter ein ins Heer der Berufspendler der Metropolregion. Es bleibt alles etwas provisorisch. Aber für den Augenblick ist das ganz in Ordnung. Ich improvisiere gerne. Wann immer ich Künstler und Rebellen treffe, geht es mir gut.

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„Erbsünde Rassismus“ (Lorenzer Kommentar vom 19.07.2020)

Im Juli fand der Lorenzer Kommentargottesdienst zum Thema „Erbsünde Rassismus“ statt. Das Motto hatten wir vom „Publik Forum“ geborgt (an anderer Stelle war von Ursünde die Rede). „Black Lives Matter“ hat nach dem Mord an George Floyd auch in Deutschland viele Menschen auf die Straße gehen lassen. In der gut besuchten Lorenzkirche hielten dazu Prof. Friedrich Heckmann und Stadtrat Nasser Ahmed die wissenschaftlichen bzw. politischen Kommentare und mir blieb die Aufgabe, einen kurzen theologischen Kommentar einzubringen. Friedrich Heckmann zeigte, dass Rassismus ein ebenso modernes wie haltloses Konstrukt ist, das der Unterdrückung dient. Nasser Ahmed sprach mehrfach vom „Mut zur Wahrheit“, der uns vielfach noch fehlt. Meine Frage war im Anschluss daran war eher eine spirituelle: Kann das Ringen mit dem Reizwort „Erbsünde“ für die Auseinandersetzung mit manifestem, latenten und strukturellem Rassismus heute fruchtbar gemacht werden?

Am Ende fanden viele: Es hat sich alles wunderbar ergänzt. Die Texte liegen in St. Lorenz gedruckt aus. Hier könnt Ihr meinen Beitrag lesen:

Wasser und Werkseinstellungen

Zwei Fische schwimmen den Bach entlang. Ein dritter kommt ihnen entgegen und fragt im Vorbeischwimmen: „Hey, Jungs, wie ist das Wasser heute?“ Als er weg ist, schaut der eine den anderen an und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

David Foster Wallace hat mit dieser Parabel auf unsere geistigen und emotionalen „Werkseinstellungen“ hingewiesen: Annahmen, die uns völlig normal und selbstverständlich erscheinen und gerade deshalb einen bösen Streich spielen können.  

Erbsünde und die „menschliche Natur“

Hier könnte uns der Begriff „Erbsünde“ helfen. Vielleicht kennen Sie den auch in der eher problematischen Form: Durch die unheilige „Begierde“, die im Zeugungsakt wirkt, gehören alle Menschen von vornherein – „von Natur aus“ – zur „Masse der Verdammten“. Sie stehen unter dem Zorn Gottes und müssen durch das Sakrament der Taufe (die deswegen nie früh genug stattfinden kann) erlöst werden.

Sünde erscheint da als Unreinheit, Verdorbenheit, als Makel und Zwang. Heute bezeichnen wir Sünde, durchaus im Einklang mit den biblischen Texten, eher als menschliches Verhalten, das Beziehungen – zum Nächsten, zu Gott, zu mir selbst – belastet, und damit Leid verursacht oder vorhandenes Leid verstetigt.

Manchmal geschieht das offensichtlich, bewusst und vorsätzlich: Offener Hass, körperliche und seelische Gewalt, Lüge, Gier und Größenwahn. Expliziter Rassismus gehört dazu. Nichtweiße Menschen werden verächtlich und feindselig behandelt. Dazu kommen die unsäglichen Rechtfertigungen, damit der Rassist von sich sagen kann, er sei ein anständiger Mensch.

Photo by Koshu Kunii on Unsplash

Aber es gibt eben auch unbewusste, unbeabsichtigte, oft unerkannte und uneingestandene Sünde: Verstrickungen, durch die wir vom Elend anderer profitieren. Vorurteile, die Barrieren bilden zwischen einzelnen Personen und zwischen Gruppen von Menschen. Wir tun vielleicht nichts offensichtlich Böses, aber wir unterlassen es, das Gute und Not-wendige zu tun.

Jesus hat das Problem mit dem berühmten Wort vom Splitter und Balken angesprochen: Menschen messen nicht nur mit zweierlei Maß, indem sie fremde Schuld aufblasen und die eigene verharmlosen. Sie sind auch geniale Verdrängungskünstler, die sich selbst austricksen und täuschen. 

Für Jesus bedeutet das: Viele mühsame Konfrontationen mit all den Selbstgerechten, die sich für Gottes treueste Diener und besten Freunde halten. Deckt er ihre Täuschungen und Widersprüche auf, reagieren sie gekränkt und empört. Nicht nur die sprichwörtlichen Pharisäer – das Problem reicht bis in den innersten Kreis seiner Jünger. Auch diese Weigerung, die eigenen Abgründe in den Blick zu nehmen, bringt Jesus ans Kreuz.

„Erbsünde“ und Kultur

So also lässt sich „Erbsünde“ sinnvoll verstehen: Kulturell vermittelte und geprägte Denk- und Verhaltensmuster, die so tief sitzen, dass wir sie nicht erkennen. Gegen deren Aufdeckung wir uns mit aller Macht wehren, weil unser Selbstbild das nicht verkraften würde. Wir haben sie quasi „mit der Muttermilch aufgesogen“. Und wenn nichts geschieht, geben wir sie weiter an kommende Generationen. Das Leid, das so entsteht, nimmt kein Ende.

Selbsterkenntnis kann schmerzhaft sein, aber sie ist ein heilsames Geschenk. Christliche Mystiker haben die Worte des 139. Psalms immer wieder bewegt: 

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; 
prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. 
Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, 
und leite mich auf ewigem Wege.“ 

Das Konzept „Erbsünde“ heißt also für mich als Christ, dass ich darum bete und darauf achte, genug Distanz zu mir selbst zu haben, um auf problematische Ansichten und Affekte ansprechbar zu sein. Sich mit blinden Flecken auseinanderzusetzen, gehört zum Alltagsgeschäft des spirituellen Lebens. Leider sind nicht alle Christ*innen in dieser Grundkompetenz gleichermaßen versiert. 

Für mich als „Biodeutschen“ fällt Rassismus in diese Kategorie der „Werkseinstellungen“ – Unbewusstes, Unbeabsichtigtes und Uneingestandenes. Georg Seeßlen schrieb kürzlich: 

„Ich bin ein Rassist. Nicht, dass ich einer sein will, nicht, dass ich rassistische „Ideen“ hege, nicht, dass ich nicht träumte von einer Welt, in der ein Kind aus einem alten Buch aufblickt und seine Eltern fragt: „Rassismus? Was war das eigentlich?“ Nein, ich bin Rassist, weil ich in einer Gesellschaft lebe, in der immer noch struktureller Rassismus parallel zur sozialen Ungerechtigkeit verläuft, und in der jemand mit heller Hautfarbe, ob er oder sie es will oder nicht, Privilegien erfährt oder wenigstens Gefährdungen und Benachteiligungen vermeiden kann. Und ich lebe in einer rassistischen Kultur, oder doch zumindest in einer, die offen oder verborgen Bruchstücke ihres rassistischen Erbes mit sich schleppt, manche gar in Form kultureller Heiligtümer.“

„Zeit“ vom 30. Juni 2020

„Weißes Schweigen“ und die Angst, beschämt zu werden

Ich lese gerade das Buch „Me and White Supremacy“ von Layla F. Saad. Sie hat als schwarze Muslima, die in Großbritannien und den USA gelebt hat, eine Anleitung für Weiße geschrieben, die sich mit ihrem subkutanen Rassismus befassen möchten. Es ist ein bisschen beklemmend zu lesen, weil mein „Weißsein“ (nicht als Pigmentierung, sondern als Zugehörigkeit zu einer privilegierten Klasse) dort als Problem behandelt wird.

Diese Umkehrung ist ungewohnt, aber nicht analogielos. Unsere Ökonomen und viele Politiker haben zum Beispiel lange Armut als Problem behandelt und über Reichtum geschwiegen. Es gab Armutsberichte der Bundesregierung, aber Erhebungen über Reichtum sind erst in jüngster Zeit veröffentlicht worden, und sie offenbaren ein massives Problem. Die Seligpreisung der Armen und der Weheruf gegen die Reichen im Neuen Testament hat das vor 2000 Jahren schon vorweggenommen. 

Verhält sich das bei Rassismus ähnlich: Ist Weißsein ein ähnliches Problem wie Reichsein?Ich möchte nur einen Punkt aus Saads lesenswertem Buch herausgreifen. Als „Rassist, der keiner sein will“, graut mir wie vielen anderen davor, in eines der vielen rassistischen Fettnäpfchen zu treten. Das bedeutet Tadel, Empörung, Streit und Gesichtsverlust. Um dem zu entgehen, halte ich mich aus heiklen Diskussionen heraus („White Silence“), beschränke mich auf gefahrlose Symbolpolitik („Tokenism“). Oder ich raste aus und blocke alles ab („White Fragility“).

Wie oft habe ich den Satz gehört „Ich weiß ja gar nicht, was ich noch sagen darf, also sage ich lieber nichts“. Schon bin ich wieder bei der Frage, wie schwer es alte weiße Männer heutzutage doch haben. Und nicht mehr beim Leid der People of Color, die von Vorurteilen und Ignoranz betroffen sind. 

Notwendige Schwierigkeiten 

Saad hat Recht damit, dass wir in der Aufarbeitung und Überwindung des Rassismus unter uns unweigerlich solche verstörenden, peinlichen Erfahrungen machen werden. Und dass wir keine Fortschritte erzielen, wenn uns dieser Preis zu hoch ist.

Aber im Grunde ist dies dasselbe Risiko, das wir beim Besuch eines Gottesdienstes oder beim Aufschlagen der Bibel eingehen: Es könnte zu schmerzhafter Selbsterkenntnis führen. Freilich öffnet Selbsterkenntnis auch die Tür zu Vergebung und Versöhnung. Und wenn ich das einmal erlebt habe, kann ich angstfreier in den Spiegel schauen, der mir vorgehalten wird.

Wir können mit antirassistischem Engagement nicht warten, bis wir fehlerlos sind. Der schwarze Bürgerrechtler John Lewis, der am Freitagabend (17. Juli) starb, sagte einmal: 

„Never ever be afraid to make some noise and get in good trouble, necessary trouble.“ – Habt auf keinen Fall Angst, Krach zu schlagen und in gute, notwendige Schwierigkeiten zu geraten.

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