Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…
In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.
Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.
Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.
Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.
Ich bin in Kirchen gegangen und habe mich gezwungen zu beten. Zuvor hatte ich das noch nie getan, eine unglaubliche Erfahrung. Am Anfang habe ich mich lächerlich gefühlt. Aber diese Lektüre verströmt eine wahnsinnige Kraft – selbst dann, wenn man sie für sinnlos hält. Das Vaterunser ist ein unglaublicher Text, beinahe wie ein Mantra.
Das Gebet ist auch ein zentrales Thema für Johann Baptist Metz in seinem 2017 erschienenen Band „Memoria Passionis“. Für Metz hat die Gebetssprache Vorrang vor der abwägenden Sprache der Theologie. Das gilt auch und besonders dann, wenn sie nur ein Schrei, selbst ein stummer Schrei ist. So beschreibt Metz sein eigenes Schlüsselerlebnis – den traumatischen Moment als 16jähriger Soldat kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, der seine Kameraden tot auffindet: „Seitdem gibt es für mich Rückfragen an Gott, an den Gott Abrahams, isaaks und Jakobs, an den Gott Jesu, Rückfragen, für die ich zwar eine Sprache habe, aber keine Antworten. Und so habe ich sie mir als Gebete zu eigen gemacht.“
Christen müssen darauf achten, dass der Kern der großen religiösen Sprachformen – vor allem auch die der Bibel – eine Leidens- und Krisensprache ist. Das ist deswegen so wichtig, weil die Glut der Theodizeefrage auch heute nicht erloschen ist.
… Diese Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Als solche ist sie viel widerstandsfähiger, viel weniger geschmeidig und anpassungsbereit, viel weniger vergesslich als die zumeist idealistische Sprache, in der die Theologie sich bei ihrer Gottesrede um Modernitätsverträglichkeit bemüht und mit der sie ihre Verblüffungsfestigkeit gegenüber allen Katastrophen und allen leidvollen Erfahrungen der Nichtidentität probt.
Diese Gebetssprache ist weitaus risikofreudiger als der Logos der Theologie. Sie kennt die unglaubliche Bandbreite der Verrätselungen der menschlichen Existenz und deren Fragwürdigkeit im Blick auf Gott. Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort „Gebet“ nicht gäbe. Die Gebetssprache ist die einzige Sprache ohne Sprachverbote. Sie ist umfassender als die Spache des seiner selbst gewissen Glaubens. In ihr kann man auch sagen, dass man nicht glauben kann.
Vielleicht ist es ja das, was August Diehl gespürt hat, als er sich in das Leben des betenden Rebellen einfühlte. Und unsere Aufgabe in den verschiedenen Kirchen, diesen Aspekt – Fragen und Klagen, Schreien und Schweigen – wieder neu ins Zentrum zu rücken. Diese unglaubliche Erfahrung könnte vielen gut tun.
Das Jahr 2020 ist schon ein paar Wochen jung und mit ihm die Jahreslosung aus Markus 9. Ich habe nochmal einen Blick darauf geworfen und das in erzählender Form hier festgehalten. Gründe für einen verzweifelten Aufschrei gibt es gerade täglich neu, im Großen wie im Kleinen.Und genau da liegt womöglich die Hoffnung.
Wir haben es nicht gleich gemerkt, dass unser Sohn nicht so ist wie andere Kinder. Das erste, was uns auffiel, war, dass er nicht reagierte, wenn wir mit ihm redeten. Als ob eine unsichtbar Hand ihm Ohren und Mund zuhielt. Er fing später an zu laufen als Gleichaltrige, aber es gab immer wieder unerklärliche Stürze. Als ob eine unsichtbare Hand ihm plötzlich einen Schubs gab. Keine Sekunde konnten wir ihn aus den Augen lassen. Ohne die Hilfe von Nachbarn und Familie hätte es schon längst tödlich ausgehen können. Der nächste Brunnen und das nächste Herdfeuer sind immer nur ein paar Schritte entfernt.
Irgendwann sind dann auch unsere Klagen verstummt. Hilft ja nichts. Es muss halt irgendwie weitergehen. Manchmal höre ich meine Frau nachts weinen. Ich wage nicht, sie zu trösten, weil sie dann vielleicht noch viel schlimmer weint, und dann wachen die Kinder auf, und am Ende weine ich auch noch mit. Einer muss doch stark bleiben. Einer muss das Gleichgewicht halten, wenn alles aus dem Lot ist.
Aber dann zog dieser Prophet durch die Dörfer in der Nähe. Einer vom alten Schlag wie Elija und Elischa, der Wunderkräfte hatte. So hörte ich es jedenfalls. Also nahm ich den Jungen eines Tages an der Hand und wir machten uns auf die Suche. Wir stießen am Fuß des Berges Tabor auf eine Gruppe seiner Nachfolger. Der Meister, sagten sie, habe sie beauftragt, die Kranken zu heilen. Und es schien zu funktionieren!
Bis sie es mit meinem Kind versuchten. Sie versuchten es drohend und flehend, mit stillen und lauten Gebeten, und ich sah allmählich dieselbe Erschöpfung in ihren Augen wie in den Augen meiner Frau. Plötzlich hörte ich Stimmen näherkommen. Der Meister war zurück. Niemand musste mir erklären, wer der Mann war. Irgendwie leuchtete er von innen heraus, als hätte er da oben mehr Sonne in sich aufgenommen als wir anderen.
Aber als er zu reden anfing, erstickten seine Worte meine aufkeimende Hoffnung mit einem Schlag. Unwirsch tadelte er seine Leute für ihre Unbeholfenheit. Die zogen die Köpfe ein und sagten nichts. Ich schaute zu meinem Sohn hinüber, den die unsichtbare Hand gerade wieder heftig zu schütteln begann. Und ich sah, dass Jesus – der Prophet – ihn auch ansah. Unsere Blicke begegneten sich. Er fragte, wie lange das schon so geht. Ich erzählte es ihm so, wie ich es euch gesagt habe. Und dann brach es aus mir heraus: „Hilf ihm doch, wenn du kannst!“ Denn nach so viel Erschöpfung und Enttäuschung wagt das Herz nicht mehr, rückhaltslos zu hoffen.
„Wenn du kannst?“, wiederholte er und sah mich herausfordernd an – hatte ich ihn in seiner Ehre gekränkt? Dann sagte er: „Alles ist möglich, wenn einer glaubt“ Was das eine Ohrfeige für mich oder die ausgestreckte Hand? In seiner Stimme lag eine Gewissheit, die allen anderen fehlte. Ich schluckte den Drang herunter, ihn zu besänftigen oder mich zu rechtfertigen. Stattdessen fiel mir ein: „Gott hilft“ – das sagt doch schon der Name Jeschua. Und da brach es aus mir heraus: Ein heiserer Schrei, in dem das Weinen meiner Frau, die Alarmrufe der Nachbarn und das unartikulierte Stöhnen meines Sohnes, wenn er sich verletzt hatte, mitschwang und meine eigene Sprachlosigkeit durchbrach:
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
Dann wollte ich mich nur noch neben meinen Sohn auf den Boden legen und nie wieder aufstehen. Aber zu meiner grenzenlosen Überraschung sah sich der Mann Gottes kurz um, beugte sich zu ihm hinunter und begann mit fester Stimme zu sprechen. Und ob ihr es glaubt oder nicht, ich konnte sehen, wie sich der Griff der unsichtbaren Hand löste, Finger um Finger. Schließlich lag er regungslos vor uns; so völlig entspannt, dass ich kurz dachte, er sei tot. Aber dann packte Jesus ihn an der Hand – und er stand auf!
Jesus war schon weg, als ich endlich den Blick abwenden konnte von dem Menschenskind, das aufrecht und frei vor mir stand. Gott hat geholfen. Wir gingen zusammen nach Hause. Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Aber diesmal nicht aus Sorge, sondern weil ich meinen Blick nicht losreißen konnte von dem Wunder.
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