Strafe, Stellvertretung und Sühne – wie lässt sich Jesaja 53 verstehen?

In einem Gespräch über René Girards Interpretation des Sündenbocks kamen wir auf das Gottesknechtslied aus Jesaja 53. In der christlichen Tradition wurde es häufig so auf den Tod Jesu am Kreuz bezogen, dass es zur Theorie des stellvertretenden Strafleidens passte. Und in der Tat sind alle Stichworte dafür vorhanden. Fraglich ist freilich, ob das eine angemessene oder gar (auch das denken etliche) die einzig mögliche Auslegung dieser oft zitierten Worte ist.

eberhard grossgasteiger

Im ersten Vers ist davon die Rede, dass Gott sich auf eine verblüffende Weise offenbart. Die folgenden Zeilen machen deutlich, dass es dabei um eine kranke und entstellte Person geht, deren Umwelt sich mit Ekel und Verachtung von ihr abwendet („Verachtet war er und von Menschen verlassen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut“). Der Rückschluss scheint unausweichlich, dass es sich dabei um Gottes gerechte Strafe für irgendein Vergehen handelt: „Wir aber hielten ihn für einen Gezeichneten, für einen von Gott Geschlagenen und Gedemütigten.“

In Vers 5 dreht sich die Perspektive plötzlich um: Nicht der Kranke ist schuldig, sondern die, die aufgrund jener Krankheit seine Schuld konstatieren oder postulieren. Das Kollektive „Wir“ seines Umfelds, das hier spricht, erkennt seinen Irrtum an. Und jetzt dreht sich alles um die Frage, wie man die folgenden Worte deutet: „auf ihm lag die Strafe, die unserem Frieden diente, und durch seine Wunden haben wir Heilung erfahren.“ Man kann hier entweder eine schlichte Schilderung des Sündenbock-Mechanismus sehen, die nüchtern aussagt, dass zerstörerische Aggressionen auf einen Sündenbock (den Kranken) abgewälzt wurden, und dass das insofern dem gesellschaftlichen Frieden dient, als die Schuldfrage damit vordergründig erst einmal vom Tisch ist. Die Schuld des Kollektivs besteht dann ganz konkret in seinem Umgang mit dem Sündenbock, dessen unverschuldete Krankheit auch noch mit Ausgrenzung und Verachtung belegt wird.

Oder man kann es als gottgegebene Notwendigkeit betrachten, Schuld – und das wäre dann keine konkrete, sondern eine diffuse, nicht näher umrissene – unbedingt zu strafen, notfalls auch an einem unschuldigen Stellvertreter. Das allerdings verklärt und sakralisiert letztlich die Ausgrenzung des Sterbenskranken: Sogar Gott „braucht“ dann einen Sündenbock, und sei es auch nur, um Schlimmeres zu verhindern und den Frieden zu retten, indem er ein kleineres Übel verursacht.

Aber das Bekenntnis der vormals selbstgerechten Verfolger weist in eine ganz andere Richtung: Gott stellt sich auf die Seite des unschuldig Leidenden. Er hebt damit das Urteil auf, hier habe jemand seine gerechte Strafe erhalten. Im Vergleich der Übersetzungen der Zürcher Bibel und von Buber-Rosenzweig spiegelt sich das deutlich wider:

  • Zürcher: „Dem HERRN aber gefiel es, ihn mit Krankheit zu schlagen. Wenn du ihn zur Tilgung der Schuld einsetzt, wird er Nachkommen sehen, wird er lange leben, und die Sache des HERRN wird Erfolg haben durch ihn.“ Gott hat hier also die Krankheit als Strafe verfügt.
  • Buber-Rosenzweig: „So wollte es Er: sein Zermalmter, den er verkränkt hatte, setzt seine Seele das Schuldopfer ein, soll noch Samen sehen, Tage längern, und durch seine Hand gerät Sein Wille.“ Gott stellt sich zu dem „Zermalmten“, der ihm im Leiden die Treue hält, und hebt die vermeintliche Strafe auf. Gottes Wille ist die ganze Zeit über, dass sein Knecht lebt und Nachkommen hat. Zweifel daran bestehen nur bei denen, die verächtlich auf ihn zeigen, um selbst gut dazustehen.

Nicht irgendwer trägt nämlich die Schuld der Vielen, sondern präzise der, der von eben diesen Vielen – selbst noch im Tod (V.9) – verdächtigt, beschuldigt, diffamiert und verachtet wird. Die Schuld ist der unehrliche Umgang mit sich selbst: Die Verleugnung eigener Konfliktanteile, die Härte gegen den Schwachen und Entstellten (der nicht der sozialen Norm von Ansehnlichkeit entspricht), und das ungehemmte Ausleben eines vermeintlich gerechten Zorns.

Gott lässt all diese Dinge erst einmal geschehen, um dann die Selbsttäuschung der Ankläger und Richter aufzudecken. Das ist bei Hiob so, das geschieht hier durch den Gottesknecht, und von da aus lässt sich auch die Passion Christi deuten. Wenn wir sie so lesen, wird sie auch zum Schlüssel für das Verstehen unserer Gegenwart. „Sühne“ besteht dann nicht darin, dass eine negative moralische oder spirituelle Bilanz ausgeglichen wird, sondern dass das keine Schuld mehr verschoben und keine Gewalt mehr verübt werden muss, weil kein Ausgleich gefordert wird. Sie besteht im Verzicht auf Gewalt, auch auf sakrale Gewalt.

Mögen sich auch einzelne Formulierungen aus Jesaja 53 zur Konstruktion bestimmter Sühnetheorien eignen, der Duktus des Gottesknechtsliedes weist in eine hilfreichere Richtung. Von da aus kann auch noch einmal neu überlegt werden, wie sich Jesaja 53 sinnvoll auf die Passion beziehen lässt und welchen Beitrag es zur Deutung der erlösenden Wirkung des Todes Christi am Kreuz leistet.

Wichtig ist das auch deswegen, weil Christen auch nach 2000 Jahren immer noch versucht sind, in eine „vergeltungssüchtige Klagereligion“ abzurutschen, die aus einem falschen Opferkomplex heraus Ausgrenzung und Gewalt legitimiert, wie Wolfgang Palaver zutreffend schreibt. Diese setzt die mimetische (aus Nachahmung entstehende) Gewalt unter anderen Vorzeichen einfach fort. Dabei werden freilich, wie Girard schrieb, „Verfolgungstaten im Namen der Verfolgungsbekämpfung ausgeführt“ und Gottes Absichten auf den Kopf gestellt.

In dieser Woche findet Gott im Berg zum elften Mal statt. Jede der Kreuzwegstationen haben wir über zehn Jahre hinweg in ganz unterschiedlichen Varianten gestaltet. Kein einziges Mal jedoch haben wir das als stellvertretendes Strafleiden dargestellt. Es war auch gar nicht nötig: Die vielen Besucher und Mitwirkenden haben es gar nicht vermisst.

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Unkreatives Kreativ-Blabla

Eigentlich hatte ich mich ernsthaft für das Produkt dieser Software-Firma interessiert. Dann war ich einfach nur fassungslos über das Blabla, das mir aus dem Video entgegenschlug. Einfallslose Meterware aus Marketing-Textbausteinen („we are inspired by passionate people“ – ach, echt?), mit denen man wohl so ziemlich alles verkaufen kann.

Oder auch nicht – ich zumindest hatte nach dem Ansehen des Clips jedes Interesse verloren. Weder text noch Bilder haben mir verraten, was ich mit dem Programm konkret besser machen kann als mit dem, was ich habe.

Ich musste an die Affen von Jan Böhmermann denken, die hätten den Werbetext wohl auch hinbekommen. Und dann dachte ich an die Kreativen in der Kirche: Hoffentlich gelingt es wenigstens dort, solche unkreativen Plattitüden zu vermeiden.

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Inter-Essens-Fragen

Gestern war ich mit einem Freund zum Mittagessen weg. Wir saßen und gegenüber und erzählten. Die Tische in dem Lokal stehen relativ eng nebeneinander. So kam es, dass sich die Dame vom Nebentisch plötzlich in unser Gespräch einschaltete, als er von seinen Erfahrungen mit dem Intervallfasten erzählte.

In den folgenden zehn Minuten erfuhren wir alles, was es über richtige Ernährung zu wissen gibt: Was anders ist als bei Low Carb, welche Diäten nicht funktionieren, was das mit dem Insulin zu tun hat, und dass Ärzte in der Regel keine Ahnung haben von Ernährungsfragen. Zwischendurch entschuldigte sie sich zweimal, dass sie das Gespräch gekapert hatte; aber wir nahmen die Entschuldigungen – in der Erwartung, sie kündigten das Ende ihres Redeflusses an – offenbar so höflich auf, dass sie ihr Glaubenszeugnis gleich erleichtert fortsetzte.

Irgendwann bekam sie einen Anruf und wir verlegten uns schnell auf andere Themen.

Danielle MacInnes

Hinterher dachte ich: Ein paar meiner Freunde und Bekannten würden jetzt vermutlich sagen: Sowas müssten wir Christen uns auch wieder trauen. Mutig über das reden, woran wir glauben und was unser Leben positiv prägt. Ruhig auch mal ungefragt und mit wildfremden Leuten, wenn Gott sie schon an den Nebentisch setzt und sie schon beim Thema sind. Ein bisschen wie Philippus und der äthiopische Kämmerer. Schließlich haben wir ja etwas zu sagen!

Und dann gibt es die anderen Freunde und Bekannten, die das trotzdem übergriffig fänden, sich in ein persönliches Gespräch unter Freunden ungefragt einzumischen. Die schon bei der Vorstellung im Boden versinken würden, fremden Menschen einen belehrenden Monolog zu verpassen, und denen ein „gut gemeint“ oder „schadet doch nix“ als Rechtfertigung nicht ausreicht.

Vielleicht gibt es den einen oder anderen Moment, wo es die richtige Entscheidung ist, sich „zur Zeit und zur Unzeit“ einzumischen (vgl. 2.Tim 4,2 – wobei diejenigen, die diesen Vers so lieben und gern im Munde führen, in meiner subjektiven Wahrnehmung öfter die Unzeit als die Zeit wählen…), oder auch den passendenden Moment für positive Unverschämtheit (Röm 1,16).

Aber es kann eben auch passieren, dass es so läuft wie bei mir gestern, dass ich eher genervt reagiere auf das Mitteilungsbedürfnis distanzloser Gesundheits- oder Was-auch-immer-Apostel. Der Terminus „Intervallfasten“ ist seit gestern – sachlich bestimmt völlig zu Unrecht – mit einem Gefühl des Widerwillens verknüpft.

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Batman und der brennende Busch

Vielleicht lag es daran, dass ich letzte Woche „Black Panther“ im Kino gesehen hatte. Als ich nun darüber nachdachte, wie sich der Name Gottes – je nach Gusto „Ich bin, der ich bin“, „Ich werde sein, der ich sein werde“, „Ich bin der Ich-bin-da“ – für Grundschulkinder erschließen lässt, fiel mir jedenfalls Batman ein.

Paul Green

Wir sprachen im Unterricht über die merkwürdige Selbstbezeichnung JHWHs gegenüber Mose in der Wüste am brennenden Busch. „Ich bin, der ich bin“, das könnte jede(r) von uns auch von sich sagen, ohne dabei viel von sich preis zu geben. Dann zeigte ich das Batman-Logo und fragte, welche Gemeinsamkeit der Comic-Held mit Gott hat.

Die Antwort kam prompt: „Auch Batman verrät nicht, wie er heißt.“

Es steckt offenbar doch einiges an Theologie in den Superhelden-Stories:

  • Weil Batman keine Adresse hat, kann er überall auftauchen, aber er lässt sich auf keine fixe Position festlegen.
  • Das einzige, womit die Leute rechnen können, ist, dass er zu Hilfe kommt, wenn sie in Not sind und dass er auf der Seite der Gerechtigkeit steht.
  • Und weil niemand seinen bürgerlichen Namen kennt, wahrt er dabei stets sein Geheimnis.

Israels Gott hat im Unterschied zu Bruce Wayne keinen bürgerlichen Namen. Auch da waren die Kinder gestern großartige Theologen. Eins vermutete, Gott habe überhaupt keinen Namen, ein anderes meinte, Gott habe zu viele Namen, um nur einen nennen zu können. Beide haben Recht.

In der paradoxen Spannung, dass seine vielen Namen jeweils einzelne Facetten von Gottes Wesen erhellen (und gleichzeitig andere verhüllen), dass aber kein einzelner Name alles abbilden könnte, was Gott ist – geschweige denn den Wandlungen unseres Gottesbildes im Laufe eines Lebens gerecht zu werden – darin liegt schon viel Wahrheit und Weisheit.

Das Beste aber ist, dass es schon Kinder verstehen. Und Batman wird sie von jetzt ab immer dran erinnern.

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