Ich sitze an meiner Predigt für den dritten Advent und lese dazu Leonardo Boffs (morgen wird er 70!) Gedanken zur Zukunft des Christentums in einer globalen Kultur. Er hat ein sehr schönes Stück zur Bedeutung des charismatischen Christentums darin, und als ich das las, spürte ich eine wachsende Begeisterung für meine charismatischen Wurzeln:
Seit den siebziger Jahren ist überall auf der Welt ein beeindruckendes Anschwellen der charismatischen Bewegung zu beobachten, zunächst auf ökumenischer und dann auch auf katholischer Ebene. Das Phänomen ist Teil jener aufbrechenden Kultur, dass die Menschen Durst und Hunger nach Spiritualität, nach lebendiger Gotteserfahrung und nach flexiblem Umgang mit Traditionen haben. Millionen und Abermillionen von Charismatikern zeigen, dass es möglich ist, ein anderes Modell von Kirche zu haben, ohne dass dabei die Werte der großen Überlieferung zu Bruch gehen. Natürlich stimmt es, dass diese Bewegung noch kein definitives Profil zu erkennen gibt. Aber es stimmt auch, dass sie eine mächtige Leidenschaft für Gott und für den Geist an den Tag legt, ohne dass es ihr bisher allerdings gelungen wäre, diese mit der Leidenschaft für die Armen und dem Geist als dem pater pauperum, als Vater der Armen in ein rechtes Verhältnis zu bringen. Sobald der charismatischen Bewegung dieses neue Zu- und Miteinander gelungen sein wird, wird sie auch ihre volle evangeliumsgemäße Reife erreicht haben.
Die charismatische Bewegung lebt aus der Erfahrung des Geistes. Deshalb mangelt es ihr auch nicht an einer ausgearbeiteten Theologie. Diese gibt es also, wenn auch in der Form reflektierter Spiritualität, und der liegt freilich nicht sonderlich an Deckungsgleichheit mit der Gesamtarchitektur des religiösen Wissens.
Was für eine Zukunft hat das charismatische Christentum? Die charismatische Dimension am Christentum ist unvergänglich, weil sie zur Struktur des Ganzen gehört, welches per se in Bewegung ist. Aus diesem Grund hatte sie stets Vergangenheit, und aus diesem Grund wird sie auch stets Zukunft haben. In Begegnung mit den vielen spirituellen Wegen, die sich auf dem religiösen Weltmarkt tummeln, ist diese Spielart von Christentum womöglich eines der Modelle, die sich am besten dafür eignen, den inneren Wert der verschiedenen Ausdrucksformen des Geistes in den Kulturen der Völker zu erfassen. Es macht einen freimütigen Dialog zwischen allen möglich, und die Welt kann es akzeptieren, insofern es ein nichtimperialistisches, herrschaftsfreies Christentum darstellt, zugleich aber voller Spiritualität und Treue zum transkulturellen Charakter der Erfahrung Gottes.