Kapstadt: Briten, Pyramiden und mehr

Ich habe auf diesem Kongress eine neue Anbetungshaltung kennengelernt: man sieht überall erhobene Hände beim Singen, und wenn es dunkel ist im Auditorium leuchten aus diesen Händen kleine Lichter – keine Feuerzeuge, sondern Digicams. Manche Leute drehen sich dazu langsam im Kreis, um das Panorama einzufangen. Neben Kameras sieht man auch schon relativ viele iPads an den Tischen und auf den Fluren. Die kleinen Dinger sind eben einfach verdammt praktisch. Das WLAN hier schwächelt leider einmal mehr.

Am Vormittag ging es darum, dass noch über 600 Volksgruppen weltweit mit über 50.000 Menschen nicht erreicht werden. Ein paar können wir von der Liste wieder streichen: Dass es in Deutschland Gehörlosenseelsorge gibt und tamilische oder mandarin-chinesische Gemeinden war hier offenbar nicht bekannt (was die Frage nach den Gewährsleuten aufwirft, und ob die restlichen Daten ebenso „gut“ recherchiert sind). Trotzdem bleibt natürlich noch viel zu tun, und wir wurden von Paul Eshleman (der m.E. Horst Köhler recht ähnlich sieht) gleich zu einer Selbstverpflichtung eingeladen. Ich war nicht der einzige, für den das alles etwas plötzlich kam.

Die Bibelarbeit heute kam wieder von einem Briten, inhaltlich nicht schlecht (und endlich mal wieder ein Witz!!), aber der Raum, den die angelsächsischen Redner hier in den Plenumseinheiten einnehmen, ist jenseits aller sinnvollen Proportionen. Und die Männer. Frauen und Teilnehmer aus dem globalen Süden (der offenbar auch Indien einschließt) kommen in kurzen persönlichen Geschichten zu Wort. Aber weiße Männer erklären uns die Bibel und die Welt?

Zumindest haben wir in der Multiplexeinheit zu Mission im urbanen Kontext neben Tim Keller auch einen Portugiesen und einen einen Filipino, Raineer Chu, der über die Marginalisierung der Armen spricht. Er sagt, inzwischen hat China, was soziale Gegensätze angeht, Kapstadt von der Weltspitze verdrängt. Und erklärt den Unterschied zwischen Menschen (auch Christen), die Pyramiden bauen, und andere, die Beziehungen bauen.

Meine „Dialogue Session“ über Global Religious Trends 2010-2020 war überfüllt, also gehe ich noch eine Runde an die Sonne, die heute wieder scheint – der freie Tag ist ja vorbei. Mein Magen fühlt sich etwas flau an, das wird aber eher am Kaffee liegen als an Krokodil und Springbok, die ich gestern Abend bei „Mama Africa“ auf dem Teller hatte. Es gibt hier schon sehr interessante Kontraste: gestern sah ich eine Dudelsackkapelle der südafrikanischen Armee in der Nähe der Festung paradieren. Ungefähr so bizarr, wie wenn Massai „Ein feste Burg“ singen würden. Gab’s ja auch alles 🙂

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Kapstadt: noch mehr Lichtblicke

Der gestrige Tag fand ein versöhnliches Ende. Am Abend sprach Tim Keller kurz über die Rolle von Großstädten bei der Entwicklung der Zukunft und was Gemeinden dort beherzigen müssen: interkulturelle Sensibilität entwickeln, den Künsten einen breiten Raum geben, sich den Herausforderungen der Berufswelt geistlich und praktisch stellen, sich für Gerechtigkeit ebenso leidenschaftlich einsetzen wie für das Evangelium, mit anderen Christen und Institutionen kooperieren und offen bleiben für kontinuierliche Veränderungen wie auch zwischenzeitliches Chaos.

Beim anschließenden Bier feierten wie die beiden Oldies Padilla und Escobar, die nach einer etwas lang geratenen Retrospektive den Spirit der Lausanner Bewegung auf den griffigen Nenner brachten: Jüngerschaft, Gerechtigkeit und Einsatz für das globale Ökosystem. Gracias, hermanos!

Heute nahm ich an einer Exkursion nach Fish Hoek teil, wo wir die Sozialarbeit „Living Hope“ besichtigt haben. Eine Baptistengemeinde, die „King of Kings Church“ mit 300 Mitgliedern, hat dort mehrere Zentren mit rund 170 Angestellten und ein paar hundert freiwilligen Helfern. Pastor John Thomas hat das Projekt vor zehn Jahren angestoßen, als er dramatische Zahlen zur AIDS-Problematik hörte. Ein Drittel der HIV-Infizierten leben in Südafrika, wenn ich das heute richtig verstanden habe. Inzwischen hat sich die Arbeit ausgeweitet und man arbeitet mit Schulen und Kliniken der Region zusammen. Näheres kann man unter www.livinghope.co.za in Erfahrung bringen.

Der freie Tag ist etwas grau geraten, ich bin froh, dass wir am Sonntag auf dem Tafelberg waren. Also bin ich etwas durch die nicht so schrecklich pittoreske Innenstadt flaniert, habe endlich bei einem Geldautomaten Erfolg gehabt, in Mariam’s Kitchen ein Curry verspeist und bei einem Cappuccino Terry Eagletons vor Ironie und Wortwitz strotzendes „Saints and Scholars“ gelesen.

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Kapstadt, dritter Tag

Ich sitze in den Company Gardens unter einem alten Baum mit Blick auf den allgegenwärtigen, heute k verhangenen Tafelberg und lasse Tag 3 bisher Revue passieren. Die Vormittagseinheit übe christliches Zeugnis gegenüber der islamischen Welt (besser noch: in der islamischen Welt) war insgesamt ermutigend. Sehr gut Fan ich den letzten Redner, Ziya Meral, der kurz und präzise westliche und leider oft auch christliche Fehler im Blick auf den Islam ansprach. Ich hoffe, er ist auch bald online zu hören. Das war im Ton und Inhalt freundlich, klar und differenziert in der Sache.

ähnlich gut verlief auch die Multiplexeinheit am Nachmittag zum Thema Islam. Vieles drehte sich um die Situation von Menschen, die aus einem islamischen Kontext zu Jesus finden. Sie wird nämlich nicht nur von Muslimen, sondern auch den Mitchristen erheblich kompliziert. Neben den MBB („Muslim background believers“) ging es auch um verschiedene Ansätze christlicher Mission im Laufe der Geschichte. Gut zu hören, dass der konfrontative Weg weitgehend aufgegeben wurde, wegen Erfolglosigkeit. Es kam aber auch klar heraus, wie westliche Interventionen in der arabischen Welt auf die Muslime wirken und welche Folgen die – so wird es erlebt – erzwungene Modernisierung für die Christen vor Ort hat. Hier denke ich, dass Christen auch gegenüber modernistischer Islamkritik um Verständnis für Muslime werben müssen und pauschalen Urteilen entgegentreten.

Meine Tischgruppe – heute waren es am Ende nur mein Gegenüber aus Ruanda und ich – ist weiterhin eine Freude. Man kommt aber auch sonst ganz unkompliziert ins Gespräch. Die Inder geben mit immer ihre Businesscards (ich hab nicht mal eine), und heute blieb ich in der Pause bei einem Pfingstpastor aus Zimbabwe hängen, der mehrfach bedroht wurde und als Unruhestifter von den Behörden öffentlich beschuldigt wurde. Ich wünschte, alle Christen aus dem Westen – mich eingeschlossen – hätten auch nur annähernd die Reife und den Mut dieses Mannes. Am Tag, nachdem die Zeitungen ihn auf der Titelseite denunziert hatten, ließ er sein Auto stehen und ging überallhin zu Fuß, um zu zeigen, dass er keine Angst hatte. In Zimbabwe arbeiten Evangelikale, Pfingstler, Lutheraner und Katholiken zusammen an einem friedlichen Wandel. Es geht frustrierend langsam, hörte ich heute, aber es bewegt sich etwas.

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Hölle statt Liebe?

Die emotionalen und theologischen Wechselbäder dauern an. John Pipers Bibelarbeit heute markierte den zeitweiligen Tiefpunkt des Kongresses. Es war wohl kein Zufall, dass nach seinem Vortrag die übliche Diskussionsrunde fehlte.

Die Liebe Christi war das Motto, aber Piper verwandelte es in einen buchstäblichen Höllenritt, und das ist bei der Textgrundlage von Epheser 3 ein echtes Kunststück. Es fing schon an mit seinem Auftreten. jedes dritte Wort wurde, manchmal schon unerträglich laut, betont, als müsse man den Leuten die Wahrheit einhämmern. Dazu eine ausladende, ruckartige Gestik und gelegentlich schloss der Meister für mehrere Sätze verzückt die Augen.

Der Vortrag fehlte jeder konkrete Bodenkontakt, er spielte sich komplett in höheren Sphären ab. Piper unternahm den Versuch erst gar nicht, es Ruth Padilla DeBorst nachzutun (mehr Frauen, bitte, bitte!). Aber weil im Text „Mächte und Gewalten“ auftauchen, stürzte sich unser Ausleger sofort auf den kosmischen Kampf gegen das Böse und ordnete alles diesem Thema unter. Das erlaubte ihm, sich auf Themen zu verlagern, die im Text gar nicht vorkamen. Plötzlich war vom Teufel die Rede und die Hölle, die bei Paulus nur im Sinn von Totenreich, nicht aber als ewig-jenseitige Folterkammer erscheint, war auch gleich im Spiel, Sünde, Schuld und der Zorn Gottes folgten auf dem Fuß.

Es war einfach dreist, wie Piper das gestrige Referat dann auch explizit konterkarierte und sich dabei auf eine göttliche Eingebung am Vortag berief. Er ging zurück auf Eph 2,3 und sagte, man verstehe das Evangelium erst dann richtig und Evangelisation erst dann richtig, wenn man verstehe, dass „Gott wütend sei auf die Welt“. Da war er wieder, der janusköpfige Gott der Calvinisten, der seinen Sohn als Puffer braucht, um die Gewalt abzufedern, die sonst seine „sündigen, korrupten und rebellischen“ Geschöpfe träfe.

Ich hatte in meiner Naivität gehofft, solche Töne hier nicht mehr zu hören. Aber Pipers manipulative Attacke auf die Hörer war noch nicht zu Ende. Er verwies auf den gestrigen Tag, in dem es um das Leid in der Welt gegangen war, und bat darum, diesem Anliegen das der Abwendung ewigen Leids (also der Hölle, die er anfangs eingeschmuggelt hatte) an die Seite zu stellen. In dem Satz, der dann aber die Zustimmung der Delegierten einforderte, hatte Piper sein eigentliches Anliegen dem sozialen aber rhetorisch vorgeordnet. Viele haben da wohl nicht bemerkt, es war einfach ein schlaues Schurkenstück, was er da abgezogen hat.

Die Organisatoren hatten am ersten Tag großspurig angekündigt, beim Überschreiten des Zeitlimits das Mikro abzudrehen. Heute haben sie eine große Gelegenheit verpasst, ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.

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Der Tag des Friedens (Kapstadt Teil 2)

Vorab ein paar Dinge zum Kongress allgemein: Die vielen freiwilligen Helfer beeindrucken durch ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Außer dem schwachen Internetzugang ist alles sehr gut organisiert für uns Teilnehmer. Und fast alle sagen, dass die Tischgruppen ein echtes Highlight sind. Wir sind zu viert – zwei fehlen -, aus Deutschland, der Ukraine, Ruanda und Myanmar.

Gestern Nachmittag traf ich die Dame wieder, die von Paris nach Johannesburg neben mir im Flieger gesessen hatte. Sie kommt aus Spanien und wir hatten uns beide im Stillen schon gefragt, ob der andere auch zu diesem Kongress reist, aber keiner hat gefragt. Nun wissen wir es.

Der zweite Tag begann deutlich verbessert. Gestern Abend hatten wir ein paar Schlaglichter aus Asien gehört, über erstaunliches Wachstum der Kirchen und die Schwierigkeiten von Christen in China oder Indien, mit einem sehr bewegenden Zeugnis einer jungen Nordkoreanerin. Heute knüpften wir an, indem wir Epheser 2 lasen, von der neuen Menschheit, an der Gott arbeitet und in der alte Trennungen überwunden sind.

Ruth Padilla legte – als erste Frau, die ausführlich zu Wort kam -, eine fantastische Bibelarbeit hin. Wenn die Lausanne-Website wieder geht, wäre das mein ganz heißer Tipp zum Nachhören. Sie entfaltete, wie Gott in Christus Frieden schafft und wie dieser Friede unter und durch Christen konkret wird. Das ist auch im Kontext der Integrationsdebatte in Deutschland sehr hörenswert.

Es folgten kürzere Berichte aus Indien zur Situation der Dalit in Indien, die einen großen Teil der Menschen ausmachen, die auch noch im 21. Jahrhundert wie Sklaven leben. Aber es gibt auch Zeichen der Hoffnung dort. Und alle Westler wurden von Brenda Salter-McNeil herausgefordert, an der eigenen Glaubwürdigkeit zu arbeiten. Der anschließende Bericht aus Ruanda zu den Hintergründen des Genozids an den Tutsis (ich hatte das letzte Woche schon erwähnt) wurde durch unser Tischgespräch mit dem Bruder aus Ruanda noch vertieft. Die Christen sind dort bei allen Erfolgen bei der Versöhnung immer noch dabei, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Ich habe noch einige gute Gespräche zu gestern geführt und festgestellt, dass viele die gleichen Frustrationen erlebt haben. Eine interessante theologische Beobachtung war dabei auch die, dass Guinness und Yu zwar von Gott und Christus, aber nicht vom Geist geredet hatten. Der aber ist im Neuen Testament der Schlüssel für alles Erkennen, wie die Abschiedsreden des Johannesevangeliums zeigen. Es reicht also nicht, auf Christus als den Logos hinzuweisen, der das rationale Individuum mit einer rationalen Welt verbindet und Wahrheitserkenntis begründet. Selbst die Bibel für sich genommen leistet da nicht. Der alte blinde Fleck mancher Evangelikalen schlägt hier wieder durch. Vielleicht gibt sich das ja auch noch, die „politischen“ Kompromisse gehören bei so einem Unternehmen wohl leider dazu. Aber die Menschen gleichen das wieder aus, und das ist gut so.

Ganz neu für Lausanne war auch da Thema Klimawandel. Die Multiplexsession dazu bestritt unter anderem Sir John Houghton, der dem Weltklimarat angehört und dessen Arbeit auch gegen fromme Ignoranten verteidigte. Seine Koreferenten kamen aus der Ölregion Trinidad & Tobago und aus Papua Neuguinea. Inhaltlich war nichts Neues dabei, aber Houghtons Herausforderung steht: Die Fakten sind klar und eindeutig, der Wille zum Handeln fehlt. Und die reichen Länder, die ihren Wohlstand auch billiger Energie aus fossilen Quellen verdanken, sind als erste gefragt. Mit anderen Worten: wir müssen unseren Lebensstil ändern und andere dazu motivieren, auch unsere halbherzige Regierung.

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Der Tag der Wahrheit

Der erste Kongresstag begann mit extremen Wechselbädern, aber das ist eben auch „Lausanne“. Nach Carver Yu, der sich an einer Grundsatzkritik am Pluralismus (im Sinne eines radikalen Relativismus) versuchte, die etwas grob ausfiel, schlug Michael Herbst deutlich bescheidenere und differenziertere Töne an. Sein Paper steht schon im Netz. Er beschrieb die ostdeutsche Situation und die Notwendigkeit, dass Christen als Minderheit demütig, aber zuversichtlich von Jesus reden lernen.

Unsere Gruppe hatte sich gerade angeregt darüber unterhalten, dann holte Os Guinness zum Paukenschlag aus. Christen dürften nicht ablassen von Anspruch, eine absolute Wahrheit zu vertreten. Wo dieser Anspruch zurückgenommen oder relativiert werde, sei alles verloren. Seine sechs Gründe jedoch waren eher sechs Behauptungen, und auf dem Fuß folgten verbale Ausfälle gegen Christen, die das anders sehen. So aggressiv war noch niemand aufgetreten, und es war angemessen, dass es keine Diskussion mehr gab an den Tischen, denn die „friß oder stirb“-Logik einer monolithisch-propositionalen Wahrheit (die Herbst so schön vermieden hatte) ließ dafür keinen Raum mehr. Leider war eher ein Beleg dafür, dass die Leute, die apologetisch alles an die Wahrheitsfrage hängen und das so steil vertreten, tatsächlich ein gehöriges Aggressionspotenzial darstellen. Schade!

Beruhigend war dafür die Multiplex-Einheit zum Thema Pluralismus. Dort gab es differenziertere stimmen wie die von Robert Calver, die auch auf der Website zum Kongress zu finden ist.

An diesem Tag haben bisher nur Männer gesprochen, die meisten Europäer. Das beste Statement zum Pluralismus waren aber gar nicht deren theoretische Ausführungen, sondern der Beitrag eines Libanesen, der von der Lage der Christen unter 350 Millionen muslimischen Arabern sprach und sagte, ob man diese als Freunde oder Feinde betrachte, lieben müsse man sie allemal. Das hätte Michael Herbst über die Atheisten in Ostdeutschland auch sagen können. Gar nicht richtig angesprochen wurde die Tatsache, dass Säkularisierung immer auch dem Schutz religiöser Minderheiten diente und dass Christen denselben Vorgang der Pluralisierung in islamischen Ländern durchaus begrüßen würden. Insgesamt fand ich das Ganze unbefriedigend.

Ich traf eine südafrikanische Professorin und wir fragten uns beide, warum Desmond Tutu eigentlich nicht da war, wenn der Kongress schien Versöhnung zum Thema hat. Hat man ihn nicht eingeladen, oder konnte er nicht kommen? Bislang ist Afrika eher Kulisse als eine hörbare Stimme, aber vielleicht wird das ja noch anders.

Ich gehe mit sehr gemischten Gefühlen in den Abend. Wie es weitergeht, kann ich Dan im nächsten post erzählen. Das Netz im Kongresszentrum ist notorisch überlastet, ich werde also nicht auf jeden Kommentar antworten und nicht auf alle Mails, so lange ich hier bin. es ist auch wenig Zeit, die Pausen sind kurz und man trifft ständig interessante Leute, gestern Michael Frost, heute Andrew Jones und natürlich die alten und neuen Bekannten aus der deutschen Delegation. Schon, aber auch schwer, das alles zu verarbeiten. Ich hoffe, dass das Stimmungsbild trotzdem interessant ist, und vielleicht hört ja der eine oder die andere mal eine Aufzeichnung an. Es muss ja nicht Guinness sein…

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Menge und Wert

Morgen breche ich für knapp 2 Wochen auf nach Südafrika. In den letzten Tagen hat sich noch einiges an Vorbereitungen gedrängt und zugleich habe ich gemerkt, wie kostbar mir die knappe Zeit vor der langen Abwesenheit auf einmal schien und wie viel es mir bedeutete, mit lieben Menschen sprechen zu können und Zeit zusammen zu haben.

Wie seltsam, dass ich es erst dann so richtig bewusst spüre, wenn die Zeit knapp und die Entfernung groß ist. In Wirklichkeit sind das alles auch ohne Zeitdruck kostbare Beziehungen, aber im Alltag schaffe ich es immer wieder, anderen Dingen den Vorzug zu geben, die gar nicht so wichtig sind. In Wirklichkeit hängt der Wert einer Sache nicht davon ab, ob sie knapp ist – das ist eine Täuschung. Solche Momente sind immer wichtig, auch wenn die Zeit dafür reichlich ist.

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Das Leben ist wie Roulette spielen…

… am Ende gewinnt immer die Bank. Beziehungsweise deren Spitzenleute, die höhere Boni als je zuvor ausgezahlt bekommen – zumindest in den USA – 144 Milliarden Dollar! Die Nachricht ging gestern fast unter: Die Boni steigen, während die Gewinne insgesamt sogar gesunken sind. Bei Goldman Sachs kassieren die Goldmännchen inzwischen die Hälfte der Erträge – im Schnitt eine halbe Million pro Nase – und werden munter weiter zocken.

Und die Welt schaut zu und lässt es geschehen. Die historische Chance, im Zuge der Bankenkrise drastische Reformen durchzusetzen, ist vorbei. Ist eine andere Welt wirklich möglich? Ich musste an Shane Claibornes Aktion auf der Wall Street denken – vielleicht brauchen wir sehr viel mehr davon?

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Wenn die Saat des Hasses aufgeht…

Heute erschien eine alarmierende Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur wachsenden Islam- und Fremdenfeindlichkeit der Deutschen. Zehn Prozent, darunter auch Gewerkschaftler und Kirchgänger, haben rechtsextreme Einstellungen und träumen vom „Führer mit harter Hand“. Tendenz: rasant steigend! Ist das nur linke Propaganda? Ich fürchte, nein.

Zeitgleich lese ich gerade diesen Bericht über die Rolle der Christen im Völkermord von Ruanda. Er beschreibt für die Lausanne Global Conversation nächste Woche in Kapstadt, wie es in den neunziger Jahren zu der Katastrophe kommen konnte, die rund eine Million Opfer forderte – und das im Musterland aller Afrika-Missionare! Die Gründe sind

  • ein verkürztes Evangelium, das die sozialen Verhältnisse ignorierte und damit zementierte
  • ein theoretischer Glaube, der das Alltagsleben nicht berührte
  • ein Kungeln der Kirchenfürsten mit den Machthabern (kolonial und postkolonial) statt prophetisch-kritischer Distanz, die Fehler aufdeckt und benennt.

Vielleicht sollten wir auch gleich die Lösungsvorschläge einprägen, die uns Antoine Rutayisire aus Kigali aus 16 Jahren Erfahrung nennt – sie drehen sich um die Wiederentdeckung des Evangeliums von der Versöhnung: Er bezeichnet jeder Form von Entfremdung (nicht nur unter Christen) als sündhaft und daher nicht hinnehmbar. Heilung wird möglich in der Identifikation mit Christus, dem leidenden Gottesknecht aus Jesaja 53. Damit werden – richtig verstanden – auch alte, konfliktträchtige Identitäten aufgehoben. Versöhnung wird zum Auftrag mit universaler Reichweite.

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Wer zählt im Zelt?

Die Teaparty-Bewegung, ein inhomogenes Aufbegehren der Rechten in den USA, droht die Republikanische Partei zu radikalisieren. Es droht das Ende der Volkspartei als Big-Tent-Phänomen, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist.

Etwas Ähnliches ereignet sich anscheinend gerade unter den US-Evangelikalen. Durch einen Post von Björn Wagner stieß ich auf diesen Artikel von Scot McKnight, der ötdlich frustriert den Rechtsruck einer offenen Bewegung mit durchaus progressiven Elementen zu einem strikten dogmatischen Calvinismus, dem euphemistisch als „complementarianism“ bezeichneten patriarchalischen Geschlechterverhältnis in Familie und Kirche, fundamentalistischem Bibelverständnis (Stichwort „inerrancy“) und Kreationismus, um die Liste der theologisch-kulturellen Grausamkeiten voll zu machen.

Symbolfigur dieser Machtergreifung ist für McKnight der Southern Baptist Al Mohler, der wurde unlängst von Christianity Today als Reformator beschrieben. Nicht mehr gefragt sind offenbar Denker wie J.I. Packer oder auch der Brite John Stott, der eine Schlüsselfigur der Lausanner Bewegung und des Manifests von Manila.

Die Ironie an der ganzen Geschichte ist aber auch, dass McKnight sich in letzter Zeit deutlich von emergenten Stimmen wie Brian McLaren distanzierte und seine evangelikalen Wurzeln betonte, die McLaren seiner Meinung nach aufgegeben hatte. Die Termini „emerging“ und „emergent“ erschienen ihm und anderen (wie meinem Freund Jason Clark) als zu unscharf, die Bewegung dahinter theologisch zu beliebig – und das ist sie in den USA zu einem nicht geringen Teil auch. Wobei man bei McKnights ernüchterndem Ausblick ahnt, warum das Schlagwort a new kind of christianity auch als Abgrenzungsbegriff existiert.

Nur wandelt sich die Heimat just in dem Moment, wo McKnight sich dezidiert zu ihr bekennt, unversehens zur Fremde. Vielleicht hat Brian McLaren – der ja von Rechtsevangelikalen sehr vehement angegangen wurde – nur früher und deutlicher gesehen, wohin der Hase läuft, und dass der Begriff evangelical trotz aller Rettungsversuche auf Jahre hinaus ebenso verbrannt ist wie emergent?

Am Sonntag beginnt in Kapstadt der große Weltkongress der Lausanner Bewegung. Vielleicht schaffen es die 4.000 Delegierten, viele aus dem globalen Süden, ja noch, das große Zelt wieder ganz weit zu spannen. Und vielleicht wirkt sich das auch in den USA aus, wo man es (zumal im Süden) nicht so gewohnt ist, von anderen zu lernen beziehungsweise deren Existenz und Denkweisen bestenfalls durch ein Zielfernrohr (mit dem Finger am Abzug) zur Kenntnis nimmt.

Ich würde mich freuen, wenn als Folge der Global Conversation in Kapstadt viele von einem „neuen Christentum“ sprechen, das bunt und vielfältig wie nie in einer multipolaren Welt konstruktiv mitmischt, ohne in die reaktionären Reflexe zu verfallen. Vielleicht finden wir auch einen besseren Begriff, hinter dem sich alle versammeln, zu denen die alten Kategorien nicht mehr passen.

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Wenn der Förster wildern geht

Die Zeitungen haben es während der Sarrazin-Debatte der letzten Wochen ja regelrecht herbeigeschrieben, was Horst Seehofer nun, wenige Tage nach der – inzwischen muss man ja sagen: umstrittenen – Wulff-Rede verkündet hat: Er wünscht keine Zuwanderung aus islamischen Ländern. Ständig wurden Statistiken präsentiert, welches Wählerpotenzial eine Partei rechts der Union angeblich hat. Und dass Angela Merkel vielleicht zu weit in die Mitte gerückt sei.

Da war doch klar, dass jemand diese Schäfchen wieder einsammeln muss, wenn (was ja alle Kommentatoren befürchteten) hier kein deutscher Wilders Karriere machen soll. Also krempelt Seehofer (der eben noch eine sicher nicht stammtischtaugliche Frauenquote für die CSU durchgeboxt hatte) die Ärmel hoch und wildert selbst im dichten Gestrüpp der Sarrazin-Leser und Sympathisanten, um sie wieder bei Mutter CSU zu beheimaten.

Schön ist das nicht, ganz ehrlich ist es vielleicht auch nicht einmal, und ob es wirkt, wird man sehen müssen. So wie jetzt gleich wieder alle pflichtbewusst aufschreien (und dafür sorgen, dass auch der letzte verschreckte Kleinbürger davon erfährt), muss man sich fast fragen, ob das nicht ein abgekartetes Spiel ist: Der populistische Theaterdonner, der kalkulierte mediale Widerhall, ein bisschen Volksheld spielen (der ist in Bayern mangels Küste nicht Pirat, sondern Wilderer), und dann in ein paar Wochen entweder andere zur Versöhnung vorschicken oder alles im Sand verlaufen zu lassen, wenn die Diskussion abebbt.

Wie das geht, sehen wir ja regelmäßig, wenn es um die EU geht. Laut schimpfen und dann doch brav mitmachen. Das geht eben nur in Bayern – hier wildert der Förster selbst. Wir bauchen keinen Geißler, wir haben den Protest gegen die eigene Politik schon in der Person des Landesvaters integriert. Da sollte sich Herr Mappus mal eine Scheibe von abschneiden…

Und weil wir alle keine Rechtspartei wollen, spielen wir mit: Bitte etwas öffentliches Seehofer-Bashing, möglichst aufgeregt und ohne zu viel Augenzwinkern. Ein paar von uns (es können ruhig dieselben sein) müssen in etwa drei Tagen schreiben, das müsse man doch noch sagen dürfen, wenn es schon so viele empfinden. Dann nochmal ein kleiner Reigen der Kritik, ein paar vermittelnde Worte der Kanzlerin (Nachtrag: voila – hier sind sie auch schon), die den Tanz beruhigen, und alles geht fast so weiter wie bisher. In einem Jahr trifft man sich diskret zum Bier und schmunzelt drüber.

Alles klar?

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Kaputte Kicker

Die Bayern in der Krise – was wurde da nicht alles geschrieben, gespottet und geunkt in den letzten Wochen. Die bekannten Reflexe abgründiger Schadenfreude sind zurück, selbst bei Zeitgenossen, die normalerweise fair und besonnen sind.

Freunde wie Feinde sollten einfach mal dieses nachdenkliche Interview mit Philipp Lahm lesen. Danach, danke ich, kann kaum einer, der im Sommer Deutschlandfähnchen geschwenkt hat (oder heute abend auf einen Sieg gegen die Türkei hofft), sich guten Gewissens an der Bayern-Misere weiden. Oder das beliebte Klischee der Arroganz bemühen.

Es geht nicht um Mitleid oder Sympathie, sondern einfach um sowas wie Achtung. Auf dem Platz jedenfalls ist Nachtreten verboten – zu Recht.

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Der springende Punkt

Jesus spricht im Johannes Evangelium davon, dass er das Licht der Welt ist, und dass es darum geht. ihm nachzufolgen. Nun ist das etwas anderes als die Lichter der Werbung, die fest an den Fassaden angebracht sind oder zusammen mit dem Licht der Zerstreuung von Bildschrimen und Leinwänden flimmern. Es ist auch etwas anderes als das Licht der Sonne und Gestirne, die wie ein Uhrwerk (oder noch konstanter als jedes Uhrwerk) ihre Bahn ziehen.

Dieses Licht bewegt sich unberechenbar. Es blitzt irgendwo auf und ist im nächsten Moment schon wieder woanders. Vorzugsweise da, wo man es nicht vermutet. Das einzige, was man tun kann, ist, es nicht mehr aus den Augen zu lassen, wenn mal es einmal entdeckt hat. So wie diese Katzen den roten Punkt des Laserpointers.

Bestimmt findet mancher das Bild zu verspielt. Aber wer sagt eigentlich, dass Gott nicht auch mal spielt?

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Jeder Christ ein Fanatiker?

Das hier schon gelegentlich zitierte Buch von Schleichert ließ sich nach dem trockenen Beginn recht gut an, inzwischen jedoch quäle ich mich eher durch die Seiten. Nicht, weil es nicht verständlich wäre, sondern weil Schleicherts geballte Vorurteile nun richtig zu Buche schlagen.

Der kurze Abschnitt über subversives Argumentieren brachte wenig Neues. Dagegen verdichtet sich der Eindruck, dass jede Religion, die „heilige Texte“ hat (bei Ideologien, die Schleichert ursprünglich auch einbeziehen wollte, gibt es das genau genommen ja gar nicht), zu Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt neigt, weil die in diesen Texten (d.h. Bibel und Koran) ja enthalten und nicht zu tilgen sei. Folglich sind auch moderate Vertreter (er bezieht sich hier auf Christen und gelegentlich auch Juden) nur als inkonsequent zu betrachten, im Grund haben die Fanatiker den eigentlichen Glauben besser verstanden. Nun gehe es darum, Fanatikern wie Gemäßigten vor Augen zu führen, was sie da eigentlich Verrücktes und Schlimmes glauben.

Subversiv gedacht müsste man nun fragen, wo wir hinkämen, wenn – was leider nicht ausgeschlossen scheint – zum Beispiel die Kontrahenten in Sachen Stuttgart 21 nun nach folgender Maxime von Schleichert handelten (S. 118):

Den Gegner ernst nehmen, heißt vor allem, sein intolerantesten, bösartigsten, extremsten Sentenzen und Programm ernst nehmen, und niemals zu sagen, dass es „so schlimm schon nicht kommen wird“.

Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf „Mein Kampf“. Im Prinzip macht Schleichert hier mit Christen nichts anderes, als was Alice Schwarzer und andere momentan mit dem Islam machen: Er unterstellt, dass der Extremist die eigentliche Norm sei und man daher immer mit dem Schlimmsten zu rechnen habe. Für Schwarzer ist jemand wie Tariq Ramadan nur der raffinierteste Verführer von allen – Christopher Hitchens lässt grüßen (hier ein lesenswerter Beitrag von William T. Cavanaugh zur Problematik). Auch Schwarzer verweist natürlich auf „Mein Kampf“. Das Gute an dieser Logik ist, dass man sich so mit den vielen Beispielen gar nicht mehr beschäftigen muss, die die eigene These gefährden könnten.

Nun kann man als Christ weder leugnen, dass es in der Vergangenheit kirchlich sanktionierte Gewalt gab, noch dass es heute militante Christen gibt. Man kann höchstens versuchen, letztere als Randerscheinung abzutun. Oder als Verirrung: Die eigentliche Aufgabe wäre dann der Nachweis, dass religiöser Gewalt aus christlicher Sicht immer ein Missverständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der wiederum scheint mir nur gelingen zu können, wenn man die unterschiedlichen biblischen Texte nicht pauschal und eindimensional als wörtlich eingegeben und unfehlbar betrachtet, sondern begründen kann, dass manche Texte (z.B. die Bergpredigt) ein höheres Gewicht haben als andere (z.B. Texte über den Bann und den Heiligen Krieg im AT). Oder anders gesagt: dass es (im krassen Unterschied zu „Mein Kampf“) durchaus eine innerbiblische Bibel- und Sachkritik gibt. Wo das versäumt oder unterlassen wird, da wird man weiter mit dem Verdacht leben müssen, ein ambivalentes Verhältnis zu Zwang und Gewalt zu pflegen, das nur aus taktischen Gründen Zurückhaltung übt, solange die Mehrheitsverhältnisse ungünstig sind. Hier bei uns fragt man sich das momentan im Blick auf dem Islam, in den USA muss man jedoch diese Sorge eher beim Christentum eines Glenn Beck und der Teaparty-Bewegung (und deren Verklärung von Krieg, Todesstrafe und Waffenbesitz) haben – oder manche fragwürdige Synthese von Orthodoxem Christentum und Staatsmacht in (Süd-)Osteueropa.

Man kann nun natürlich den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht auch die säkularistische Position ganz ohne Heilige Schriften dieselbe Ambivalenz aufweist und nun ihrerseits vor dem Dilemma steht, ohne Rekurs auf einen Kanon nachweisen zu müssen, dass solche Auswüchse nicht in der Konsequenz der Anschauung liegen, sondern ihrem Wesen zuwiderlaufen – ein ebenso unmögliches Unterfangen; ob wir also mit einer Erziehungsdiktatur zu rechnen haben, deren Konsequenzen aus Angst vor dem Islamismus auch von Christen unterschätzt werden.

So gesehen ist es interessant, Schleichert aus dieser doppelten Perspektive zu lesen: Wie geht er hier mit Christen um – und warum sollte es erlaubt sein, als Christ Muslimen gegenüber dieselbe Logik anzuwenden? An den Islam gerichtet stellt sich aber auch die Frage, ob es (wie in weiten Teilen des westlichen Christentums) in der Koranauslegung plausible Ansätze gibt, die zu einer im umfassenden Sinn gewaltfreien Praxis führen, und das verlässlich und dauerhaft. John Milbank, der das Dreieicksverhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung untersucht, sieht in den mystischen Strömungen des Islam eine größere Offenheit in dieser Richtung.

Viele interessante Fragestellungen also…

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Geben: wenn der eine nicht kann und der andere nichts braucht

Der Bundespräsident hat sich zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung, über die bisher nur bei der CSU gemeckert wurde (idea erscheint erst morgen…), besorgt über den sozialen Zusammenhalt geäußert. Die wachsende Kluft zwischen Arm und reich ist dabei ein zentraler Faktor. Wie Recht er damit hat, zeigt auch diese Beobachtung von Stefan Klein, der in Der Sinn des Gebens sagt, es sei aus der Sicht der Verhaltensforschung riskant,

…wenn eine Gesellschaft den Abstand zwischen ihren ärmeren und reicheren Mitgliedern zu groß werden lässt. Selbst dann nämlich, wenn die ärmeren objektiv gesehen keine Not leiden, stellt ein zu großes Gefälle die Bereitschaft aller zum Miteinander, zur Großzügigkeit und zur Nachsicht auf eine harte Probe. Denn nach dem Prinzip des reziproken Altruismus sind Menschen umso eher bereit zu kooperieren, je mehr sie zu tauschen haben. Was aber sollen Menschen einander geben, wenn die einen nichts entbehren und die anderen sich ohnehin alles leisten können?

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