Worship Bingo

Die Sprache der Anbetung ist ja die Sprache der Liebe und der Poesie – Logik ist da erst mal zweitrangig. Heute morgen etwa sangen wir den Satz „Du bist mein Stecken und mein Stab“, in einer Adaption von Psalm 23. Trotzdem: Gott als mein Stecken… ?

Aber auch die Poesie wäre ausbaufähig. Frische Worte und schöpferische sprachliche Bilder täten vielen Liedern gut. Sonst kommt es irgendwann noch so weit, dass unsere Gemeindeglieder anfangen, Worship Bingo zu spielen. Die Regeln sind die gleichen wie hier, nur die Begriffe sind andere, und wer seinen Zettel als erste(r) voll hat, ruft natürlich „Halleluja“.

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Umkehr ohne Reue

Der indische Jesuit Anthony de Mello macht auf die Tatsache aufmerksam, dass Jesus an keine Stelle im Evangelium von den Sündern ein Zeichen der Reue einfordert, dass Reue für ihn im Prozess der Umkehr keinen Platz hat. Der Prozess ist ein durchaus freudiges Ereignis. Der Schmerz über die Sünde mischt sich mit der Freude und der Dankbarkeit über das Geschenk der Vergebung und der großzügigen Aufnahme. Schon allein die Tatsache, dass der Mensch sich seine Sündhaftigkeit bewusst wird, ist nur dann möglich, wenn er bereits außerhalb des dunklen Kerkers der Sünde steht; der Sünder sieht in der Regel seine Sünde nicht, oder er sieht sie nicht wahrheitsgetreu, er ist in ihrem Dunkel gefangen. Die eigene Sündhaftigkeit wirklich zu sehen, ist das Privileg der Heiligen.

Thomas Halik, Geduld mit Gott

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Erfrischend undogmatisch

Ich bin beim Emergent Forum angekommen und habe mich am ersten Abend wieder daran erinnert, dass man die Leute, die hier zusammen kommen, nicht über einen dogmatischen Kamm scheren kann. Sie kommen aus verschiedenen christlichen Traditionen, entdecken die Reichtümer anderer Traditionen, und interessieren sich für Theologie, insofern sie ihnen hilft, die Veränderungen in ihrem persönlichen Leben, Gemeindeleben und öffentlichen Leben zu verstehen und Wege zu finden, wie praktische Nachfolge aussehen kann. Definitionen, Formeln und Bekenntnisse, die (klar: immer um „der Wahrheit“ willen) primär der Ab- und Ausgrenzung dienen, stehen eben deshalb nicht hoch im Kurs.

Neulich habe ich ein „Emergentes Glaubensbekenntnis“ gelesen. Das stammte jedoch nicht von irgendeinem bunten „emergenten“ Vogel, sondern von D.A. Carson, und da macht er, was er am besten kann: unliebsame Positionen so karikieren, dass es nicht schwer fällt, sie abzuschießen. Wirklich bewiesen hat er damit nur drei Dinge: dass er erstens bis heute nicht verstanden hat, worum es hier geht, dass er zweitens Wahrheit, Theologie und letztlich auch Gott nur in vermeintlich eindeutigen Satzwahrheiten fassen kann, und dass er drittens andere nur auf der Basis der Zustimmung zu seinen Satzwahrheiten akzeptieren will.

Um so schöner, ein Wochenende unter Leuten zu sein, wo nicht ständig darauf geschielt wird, wer jetzt noch linientreu ist. Wo Linien eigentlich kaum eine Rolle spielen, weil bei genauerem Hinsehen nichts im Leben auf Geraden verläuft oder sich sorgsam abzirkeln ließe. Wo unsere Wahrheiten daraufhin untersucht werden, ob sie statt Trennungen Verbindungen fördern, und anschlussfähig sind, anstatt Ausschlüsse zu produzieren. Und wo sie in Geschichten, in Beziehungen und im gemeinsamen Tun eingebettet sind, weil Buchstaben und Papier sie nicht richtig fassen können.

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Gut gesagt

Für gestern abend habe ich meine Notizen und Unterlagen zu Kapstadt durchgesehen und dabei auch ein paar Dinge zu Edinburgh 2010 gelesen. Die Abschlusserklärung fand ich gut, sie war kurz, prägnant, ohne das etwas unständliche Pathos, das hier und da im Capetown Commitment erscheint. Kompliment!

Ich nehme mir mal die Freiheit, den „Edinburgh Common Call“ hier in der Deutschen Fassung reinzukopieren. Es ist leider nicht immer gut übersetzt (was bitteschön ist „Gastfreundlichkeit“?). Und wer noch einen guten, nachdenklichen Kommentar zu Kapstadt lesen möchte, der findet ihn hier.

GEMEINSAMER AUFRUF

Wir sind zur Hundertjahrfeier der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 zusammengekommen und bekennen unseren Glauben, dass die Kirche als Zeichen und Symbol des Reiches Gottes berufen ist, heute Zeugnis von Christus abzulegen, indem sie an Gottes Mission der Liebe durch die verwandelnde Kraft des Heiligen Geistes teilhat.

1. Im Vertrauen auf den dreieinigen Gott und im erneuten Bewusstsein der Dringlichkeit sind wir aufgerufen, die frohe Botschaft vom Heil, von der Vergebung der Sünde, vom Leben in seiner ganzen Fülle und von der Befreiung der Armen und Unterdrückten zu verkörpern und zu verkündigen. Wir sind zu solchem Zeugnis und solcher Evangelisation aufgefordert, die uns zu lebendigen Zeichen der Liebe und Gerechtigkeit werden lassen, die dem Willen Gottes für die ganze Welt entsprechen.

2. Im Gedenken an Christi Opfertod am Kreuz und seiner Auferstehung für das Heil der Welt und in der Kraft des Heiligen Geistes sind wir zu aufrichtigem Dialog, respektvollem Engagement und demütigen Zeugnis von der Einzigartigkeit Christi unter Menschen anderen – und keinen – Glaubens aufgerufen. Unser Handeln ist von kühnem Vertrauen auf die Botschaft des Evangeliums geprägt; es baut Freundschaft auf, strebt nach Versöhnung und übt Gastfreundlichkeit.

3. In der Gewissheit des Heiligen Geistes, der über die Erde bläst, wie er will, der die Schöpfung wieder verbindet und unverfälschtes Leben bringt, sind wir aufgerufen, Gemeinschaften der Mitmenschlichkeit und Heilung zu werden, in denen junge Menschen aktiv an der Mission teilhaben und Frauen und Männer gleichberechtigt Macht und Verantwortung miteinander teilen, in denen ein neuer Eifer für Gerechtigkeit, Frieden und Umweltschutz spürbar ist und eine erneuerte Liturgie gefeiert wird, die die Schönheit des Schöpfers und seiner Schöpfung widerspiegelt.

4. Beunruhigt über Unausgewogenheit und Ungleichgewicht von Macht, die uns in der Kirche wie in der Welt spalten und Sorge bereiten, sind wir zur Buße aufgerufen, zum kritischen Nachdenken über Machtsysteme und zu einem verantwortlichen Umgang mit Machtstrukturen. Wir sind aufgerufen, konkrete Wege zu finden, um als Glieder des einen Leibes in vollem Bewusstsein dessen zu leben, dass Gott die Hochmütigen abweist, dass Christus die Armen und Niedergeschlagenen annimmt und bevollmächtigt und dass sich die Kraft des Heiligen Geistes in unserer Verletzlichkeit manifestiert.

5. Im Bekenntnis zur Bedeutung der biblischen Grundlagen für unser missionarisches Engagement und unter Wertschätzung des Zeugnisses der Apostel und Märtyrer sind wir aufgerufen, uns der Ausdrucksformen des Evangeliums in vielen Ländern auf der ganzen Welt zu erfreuen. Wir feiern die Erneuerung, die wir durch Migrationsbewegungen und durch Missionstätigkeit in alle Richtungen erfahren, die Weise, wie alle durch die Gaben des Heiligen Geistes für die Mission ausgerüstet werden, und Gottes fortwährenden Aufruf an Kinder und junge Menschen, das Evangelium zu fördern.

6. In Anerkennung der Notwendigkeit, eine neue Generation von Führungskräften zu prägen, die in einer Welt der Vielfalt im 21. Jahrhundert glaubwürdige Missionsarbeit leisten, sind wir aufgerufen, in neuen Formen der theologischen Ausbildung zusammenzuarbeiten. Weil wir alle nach dem Bild Gottes erschaffen sind, werden sich diese neuen Formen auf die einmaligen Charismen stützen, die jedem und jeder von uns eigen sind, uns einander auffordern lassen, im Glauben und Verständnis zu wachsen, Ressourcen weltweit gerecht miteinander zu teilen, den ganzen Menschen und die ganze Familie Gottes einzubinden und die Weisheit unserer Ältesten zu respektieren und gleichzeitig die Beteiligung von Kindern zu fördern.

7. Im Vernehmen des Aufrufs Jesu, alle Völker zu Jüngern und Jüngerinnen zu machen – arme, reiche, marginalisierte, unbeachtete, mächtige, behinderte, junge und alte Menschen -, sind wir als Glaubensgemeinschaften zur Mission von überall nach überall aufgerufen. Freudig vernehmen wir den Ruf , einer vom anderen zu empfangen, während wir in Wort und Tat Zeugnis ablegen – auf den Straßen, den Feldern, in Büros, zu Hause und in Schulen – und Versöhnung anbieten, Liebe zeigen, Gnade verkündigen und die Wahrheit aussprechen.

8. Im Gedenken an Christus, den Gastgeber beim Festmahl, und der Einheit verpflichtet, für die er gelebt und gebetet hat, sind wir zur fortwährenden Zusammenarbeit aufgerufen, dazu, uns kontroverser Themen anzunehmen, und auf eine gemeinsame Vision hinzuarbeiten. Wir sind aufgefordert, einander in unserer Verschiedenheit anzunehmen, unsere Mitgliedschaft durch die Taufe in dem einen Leib Christi zu bekennen und anzuerkennen, dass wir der Gegenseitigkeit, Partnerschaft, Zusammenarbeit und Vernetzung in der Mission bedürfen, damit die Welt glaube,

9. Im Gedenken an Jesu Weg des Zeugnisses und Dienstes glauben wir, dass Gott uns aufruft, in Christi Nachfolge diesen Weg zu gehen – freudig, inspiriert, gesalbt, ausgesandt und ermächtigt durch den Heiligen Geist, gespeist von den christlichen Disziplinen in unseren Gemeinschaften. In Erwartung der Ankunft Christi in Herrlichkeit und zum Gericht, erfahren wir seine Gegenwart im Heiligen Geist und wir laden alle ein, sich uns anzuschließen, wenn wir an Gottes verwandelnder und versöhnender Mission der Liebe für die ganze Schöpfung teilhaben.

Edinburgh, 6. Juni 2010

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Katholisch und „emergent“?

Das geht! Sagt Richard Rohr in einem Vortrag am Fuller Seminary. Unsere „treuen Kritiker“ werden es schon lange befürchtet haben. Für Rohr dagegen ist es das Werk des Geistes Gottes, dass sich Menschen aus verschiedenen Lagern finden und alte Barrieren überwinden, und zwar ohne dabei neue Kirchentümer zu gründen. Hier geht’s zum Mitschnitt.

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Der Gott der Migranten

Ich werde heute abend meiner Gemeinde vom Kongress in Kapstadt berichten. Bei der Vorbereitung habe ich dieses Video von Raineer Chu wieder angesehen. Ich hatte es schon einmal kurz erwähnt, aber der Mann war eine der Entdeckungen des Kongresses für mich, daher hier sein Beitrag noch einmal für alle, die sich für die Zukunft des Christentums und die Zukunft der Städte interessieren.

„Gott ist der Gott der Migranten“, sagt im Blick auf die westlichen Metropolen, und er fordert die Hörer dazu auf, die Bibel „von unten“ zu lesen und die Welt „von unten“ zu sehen. Und er beklagt die Tragik der Pyramiden-Bauer, die große Organisation, Budgets und Gebäude hinstellen (die hier und da sicher nötig und nützlich sind), aber problematische Erfolgsdefinitionen schufen.

Bevor ich jetzt alles hier mühsam reintippe, einfach auf das Video klicken und gut zuhören:

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„Emergente“ Beispiele und Geschichten gesucht

Ich bin gebeten worden, für ein internationales Buchprojekt einen Beitrag über das Thema Emerging Church im deutschsprachigen Europa zu schreiben. Dazu bin ich nun aber auf Eure Mithilfe angewiesen. An der Einleitung sitze ich gerade – und erkläre, warum das in Deutschland anders aussieht und läuft als in Nordamerika.

Der zweite Teil soll konkret darstellen, wie

  • Gottesdienst verstanden und gelebt wird
  • Gemeinschaft und geistliches Wachstum („Formation“) sich gestaltet
  • Mission (im ganzheitlichen Sinn, „Diakonie“ also eingeschlossen) stattfindet
  • und in welchen Formen und Strukturen Leitung wahrgenommen wird

Anregungen, Hinweise und Beiträge sind herzlich willkommen. Ihr solltet Euch nur nicht ewig Zeit lassen, bis zum Nikolaustag hätte ich das Material gern zusammen. Manche sehe ich ja am Wochenende in Essen. Ich habe viel Zeit mitgebracht für Gespräche und zum Sammeln von Stories.

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Zwei Wege

Übermorgen startet das Emergent Forum zum Thema „der dritte Weg“, aber das mit der drei geht nicht immer auf, vielleicht sollten wir dann einfach „der alternative Weg“ sagen. Der kann zum Beispiel so aussehen.

Es gibt … zwei radikal unterschiedliche Wege, wie Gott zu sein: der Weg „der Gotteserkenntnis“ (in dem Sinne, dass ich den Schleier seines Geheimnisses lüfte, selbst die Gewissheit des Wissens erlange, selbst entscheiden kann, was gut und was böse ist) oder der „Weg des Seins“ – wie Gott sein, indem ich mit meine Handeln der törichten, paradoxen Logik der Liebe folge.

Den ersten bot Satan dem Adam im Paradies an (ihr werdet wie Gott sein und erkennt gut und böse), den anderen bietet Jesus an (seid wie mein himmlischer Vater, der seine Sonne scheinen und den Regen auf die Guten wie die Bösen fallen lässt). Den zweiten, törichten Weg – denn er konnte schwer anders enden als am Kreuz – begreift Paulus sehr gut und radikalisiert ihn: Lasst uns Narren in Christo sein – die törichte Sache Gottes ist stärker als die Sache der Menschen.

Tomas Halik, Geduld mit Gott, S. 163f.

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Beten und büßen – wer und wofür eigentlich?

Morgen ist wieder Buß- und Bettag. Er zeigt, wie wenig anderes, die Absurditäten bayerischer Politik und das Dilemma unserer (noch-)Regierungspartei: Die Eltern gehen arbeiten, die Kinder haben schulfrei. Freilich zu einer Jahreszeit, wo man sich nicht ins Freibad oder in den Garten legen kann. Ein Feiertag, aber kein freier Tag.

Vor einigen Jahren gab die CSU dem Druck der Arbeitgeber nach und strich den Feiertag, um die Wirtschaft zu entlasten. Es gibt im Freistaat ja etliche kirchliche Feiertage, dran glauben musste allerdings ein evangelischer, weil man lieber Protestchen aus der Meiserstraße entgegennimmt als Donner aus Rom. So wurde der protestantische Feiertag zwischen den Mühlen des Kapitals und des Vatikans zermahlen. Sei’s drum – man kann trefflich drüber streiten ob Büßen und Beten wirklich noch evangelische Tugenden sind.

Aber ein paar Evangelische gibt es doch noch in der Partei, und kurz darauf ruderte man halbherzig zurück, man „besserte nach“ – wie beim G8 auf deutlich wütenderere Proteste hin, wie beim Rauchverbot, das die Bürger schließlich der verzweifelt um Popularität bemühten Mehrheitsfraktion aus der Hand nahmen und selber regelten. Vielleicht sollten wir das mit den Feiertagen ja auch machen. Viele Kirchengemeinden springen nun ein und machen Bibeltage, sicher immer gut gemeint und oft gut gemacht, aber der Makel des Lückenbüßertums lässt sich nicht abweisen.

Unsere halbherzigen, kurzatmigen und opportunistischen Volksvertreter, die uns diese ungenießbare Suppe eingebrockt haben und statt gute Lösungen faule Kompromisse in Kauf nehmen, bringen so sich nicht nur sich selbst, sondern die Politik an sich und den Staat insgesamt in Misskredit, und damit versündigen sie sich an den Fundamenten der Demokratie. Der Buß- und Bettag in seiner heutigen Form ist ein Symbol für all diese Absurditäten.

Morgen büßt also die evangelische Kirche nicht ganz freiwillig dafür, dass sie in den Augen der CSU-Führung zu harmlos ist – und daran ist sie zum Teil ja tatsächlich selbst schuld, weil „evangelisch“ vielerorts nicht mehr zu unterscheiden war von „bürgerlich“ und man evangelische Freiheit nicht als Freiheit zum Engagement, sondern als Freiheit von allen Verpflichtungen außer der Kirchensteuer begriffen hatte. Heute klagt man über die Folgen dieser Individualisierung und entdeckt – zaghaft noch – dass geistliche Übungen nichts „katholisches“ im negativen Sinne sind.

Was aber, wenn wir Evangelischen unsere bequeme Bürgerlichkeit an diesem Tag aufgäben, einen Tag Urlaub nehmen und mit ein paar hunderttausend Leuten nach München fahren würden, um die CSU „büßen zu lassen“ – besser noch: zu einer echten Umkehr zu bewegen? Themen gäbe es genug: Die halbherzige Sozialpolitik mit ihren knauserigen Hartz IV-Sätzen; die elitäre Bildungspolitik zu Lasten schwacher Schüler, ihrer Eltern und Lehrer, und der Studenten an überfüllten und schlecht ausgestatteten Hochschulen; die kurzsichtige Energiepolitik zugunsten der Atomlobby und Energieriesen; die Peinlichkeiten der Integrationspolitik, die man erst verweigerte und nun die Folgen dieser Verweigerung denen anzukreiden versucht, die schon seit Jahren eben davor gewarnt haben.

Solche Sünden öffentlich beim Namen zu nennen, deutlich und trotzdem nicht von oben herab, das wäre für ein „evangelisches Profil“ besser als irgendwelche Lutherromantik. Der arme Günter Beckstein muss sich zwar leider entscheiden, auf welcher Seite er an diesem Tag steht. Aber ich bin ziemlich sicher, dass bei so einer Aktion auch ein paar Katholiken mit von der Partie wären, womöglich sogar der eine oder andere Atheist.

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Der Schrei

Ich stehe im Baumarkt etwas ratlos vor den Regalen, um einige Dinge im Haus zu ersetzen oder zu reparieren, da geht ein Kunde auf die Verkäufer zu, die etwa 5 Meter entfernt an ihrem Service-Punkt stehen. Seinen Fahrradhelm samt gelbem Regenüberzug hat der große Mann gar nicht abgesetzt. Er fragt nach einem Ersatzteil für eine wandmontierte Toilettenschüssel und bekommt – ich kann es nicht genau hören und eigentlich interessierte es mich auch gar nicht – erklärt, dass es das betreffende Teil wohl nicht mehr gibt.

Das ist offenbar nicht die Antwort, die der Mann hören wollte, und plötzlich brüllt er aus Leibeskräften (die angesichts seiner Statur erheblich schienen) „Scheiße“ in den von säuselnder Hintergrundmusik beschallten, ruhigen Markt. Und ein paar Sekunden später noch einmal. Sachlich zwar einerseits korrekt, es ging ja um eine undichte Toilette, irgendwie war der Wutanfall aber doch unangemessen. Der Kopf leuchtete rot unter dem gelben Helm, als er sich allmählich entfernte. Er verschwand hinter den hohen Regalen, aber man konnte ihn in den folgenden zwei Minuten noch drei bis viermal sein Stichwort rufen hören.

Ich habe keine Helm dabei und bin mir nicht ganz sicher, ob der jähzornige Zeitgenosse nicht noch anfangen würde zu randalieren, aber die Verkäufer sehen alle noch sehr gelassen aus. Einer von ihnen kommt herüber, um mich zu beraten. Ob sie so etwas öfter erleben? Solche Ausbrüche von Aggression finde ich unheimlich „ansteckend“, sie lösen entweder Angst aus oder Empörung (weil sich da jemand gehen lässt) und Gegenwehr (weil er die Grenzen anderer verletzt, wenn er sie an- bzw. einfach herumschreit).

Keine Ahnung, welche Laus dem Mann über die Leber gelaufen ist, ob er vielleicht einen Sprung in der Schüssel hat, oder ob er in einem alten Psychoratgeber gelesen hat, man müsse seinen Ärger möglichst umgehend herausschreien, um gesund zu bleiben. Er sieht nicht sehr erleichtert aus nach der Aktion. Und ich bin erst dann erleichtert, als er außer Sicht- und Hörweite ist. Selbstbeherrschung ist etwas Schönes. Zum Glück schaffen die meisten von uns das an den meisten Tagen ganz gut.

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Neue Reformierte, alte Dualismen

Von all meinen Posts zum Lausanne III Kongress in Kapstadt hat meine Kritik an John Piper die meisten und heftigsten Reaktionen ausgelöst. Rolf Zwick hat mir einen Text von René Padilla zugeschickt, der ein durchwachsenes Fazit zieht. Padilla lobt die bunte Zusammensetzung der Delegierten und die globale Ausstrahlung des Kongresses, er würdigt die Bibelarbeiten und die bewegenden persönlichen Geschichten in den Plenumsveranstaltungen, die Themenvielfalt der Multiplexe und Dialogue-Sessions.

Zugleich kritisiert er jedoch einen Rückfall in den alten Dualismus von Evangelisation und sozialem Engagement als groben Schnitzer – einen von mehreren. Die Bibelarbeit des zweiten Tages hatte diesen aufgehoben, denn in Eph. 2,15 erscheint Christus als „Schalom“ – ein Begriff, der die Versöhnung mit Gott und die sozialen Verhältnisse untrennbar in sich vereint, Gottes- und Nächstenliebe nicht gegeneinander ausspielt.

Dagegen ging die Ganzheitlichkeit der Sendung Christi (oder der missio dei) am Folgetag wieder verloren, und da hat Padilla Piper offenbar genauso gehört wie ich. Er sieht dringenden theologischen Klärungsbedarf im Sinne ganzheitlich-integraler Mission. Hier sein Kommentar in der englischen Übersetzung:

The Bible reading based on Ephesians 3 on the following day threw into relief the urgent need that there is in the Lausanne Movement to clarify theologically the content of the mission of God’s people. In contrast with what had been said on the previous day, the Bible expositor assigned for that day stated that, although the church is concerned about every form of human suffering, she is especially concerned about eternal suffering and consequently is called to give priority to the evangelization of the lost.

Die nötige Diskussion über solche theologischen Fragen – sie wäre mit Sicherheit kontrovers geführt worden – hat auf dem Kongress leider nicht stattgefunden. Das unter Leitung von Chris Rice erarbeitete Capetown Commitment ist, wie Padilla moniert, auch nur verteilt worden, aber nicht besprochen. Als letzten Minuspunkt zählt er dann die Dominanz des westlichen Geldes auf – die Sponsoren haben bei der Programmgestaltung und den Inhalten kräftig mitgeredet.

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Nicht von dieser Welt?

Ab und zu begegnen mir Menschen, die im Blick auf Gott alles ganz genau wissen. Wie er über dieses und jenes denkt, wann wie er im einzelnen die Welt gemacht hat, wen er mag und wer bei ihm nichts zu lachen hat, und so weiter. Gott scheint für sie ein weitgehend gelüftetes Geheimnis zu sein. Als wäre er ein großes Zahnrad im Inneren dieser Welt, das dafür sorgt, dass alles in den Bahnen berechenbarer Ordnung verläuft.

Die Bibel dagegen ist das große Geheimnis. Auf mysteriöse Weise ist sie vom Himmel direkt in die Feder ihrer Autoren geflossen und obwohl sich manches widersprüchlich liest und geschichtlich nach unseren heutigen Maßstäben nicht immer zu hundert Prozent plausibel klingt, obwohl hier und da manche befremdliche Moralvorstellungen aufblitzen, ist sie kein Gegenstand dieser Welt, sondern man muss ihr mit unbedingter Unterwerfung begegnen und darf keine kritischen Fragen stellen.

Das nämlich wäre sündiger Relativismus und dann bekäme man es mit Gott zu tun. Schließlich ist es sein Job, die Autorität der Bibel zu schützen. Noch Fragen?

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„Missionserfolge“

Ein Newsletter flattert in die Inbox und jemand berichtet von einem Afrika-Einsatz. Unter vielen anderen Erfolgsmeldungen lese ich dort:

Dieses junge Mädchen kam nach dem Morgenseminar nach vorne und bezeugte, dass Jesus während des Gottesdienstes zu ihr sprach, dass sie nicht mehr stehlen soll. „Ich war eine Diebin und war schon im Gefängnis dafür“, sagte sie. „Ich musste immer stehlen. Jetzt bin ich frei“.

Und denke mir: Wir alle wissen, wie leicht es ist, nach einer ergreifenden Predigt und in einer bewegten Veranstaltung sich zu guten Vorsätzen aufzuraffen. Manche davon sind tatsächlich von Dauer, aber längst nicht alle. Der Vorsatz allein ist noch kein Erfolg. Wenn das so wäre, sähe ganz Afrika anders aus. In Kapstadt hatte es jemand als „over-evangelized“ bezeichnet.

Ich wünsche der jungen Frau von Herzen, dass sie die Kraft hat und Unterstützer findet, das durchzuziehen. Wir können auch dankbar sein für den guten Vorsatz. „Jetzt bin ich frei“ scheint mir hier eher Ausdruck einer Hoffnung als Beschreibung eines Zustands zu sein. Man sollte ihn nicht im letzteren Sinn missverstehen.

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Richtige Lösung – falsches Problem?

Ich bin immer noch am Nachdenken über unseren FairZweifeln-Abend gestern. Unter sachkundiger Anleitung eines Juristen haben wir den Zusammenhang zwischen Schuld, Rechtfertigung, Gesetz, Strafe und Vergebung betrachtet – und kamen dann zu dem einhelligen Ergebnis, dass es kaum plausibel zu erklären ist, warum der Tod Christi am Kreuz zur Lösung des Problems persönlicher, individueller Schuld irgendwie „nötig“ gewesen sein sollte. Denn vergeben kann Gott vom rechtlichen Standpunkt aus auch ohne Opfer oder Ausgleichsleistung. Und er tat eben dies ja auch immer wieder – die hebräische Bibel ist voller Aussagen über Gottes Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft. Die Evangelien auch – Jesus vergibt so gern und so oft, dass es die Frommen empört.

Allerdings haben wir alle immer wieder – vor allem in „evangelistischen“ Predigten – zu hören bekommen, dass Jesus stirbt, um mein persönliches Schuldproblem zu lösen und – der Gedanke schwang meistens implizit mit – irgendwie dabei auch Gottes Zorn zu besänftigen. Die Vorstellung beißt sich aber massiv mit vielen Beschreibungen, die wir bei Jesus finden, zum Beispiel im Gleichnis vom verlorenen Sohn (und wenn wir schon dabei sind, im ganzen Kapitel Lukas 15). Und anders als im Mittelalter kann sich heute kaum ein Mensch noch so einen Gott vorstellen.

Man muss also weiter denken als viele das tun. Ein Gedanke unseres Juristen war: Wenn wir in Kategorien des Rechts denken, müssen neben den Tätern auch die Opfer menschlicher Vergehen in die Überlegung einbezogen werden. Indem Gott – selbst Opfer exzessiver Gewalt – vergibt, bricht er seine Solidarität mit den menschlichen Opfern von Unrecht und Bosheit nicht. Wäre Gott nicht unmittelbar selbst betroffen, käme Vergebung für einen Täter der Verharmlosung seiner Tat gleich, einem Deal mit dem Täter hinter dem Rücken des Opfers. Insofern legt das Kreuzesgeschehen immer auch sofort die Grundlage für Versöhnung zwischen Menschen: Es befreit Täter und Opfer zugleich aus ihrem Aneinander-Gekettetsein. Es eröffnet neue Möglichkeiten für die Überwindung von Konflikten und die Beseitigung von Hass.

Das ganze Thema hat aber noch andere Dimensionen, die in der Sprache des Rechts gar nicht zu fassen sind. Ein paar davon haben wir auch kurz gestreift, mehr Zeit hatten wir leider nicht. Ich packe sie, wenn ich dazu komme, in einen späteren Post. Wer mag, kann ja einstweilen das dazugehörige Kapitel in Kaum zu fassen lesen. 🙂

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